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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0251
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Psychologie der Weltanschauungen

159 des Geistes, als Mechanismus | ein Apparat, sie wird damit inhaltlich ganz abstrakt,
ganz allgemein. In diesem Weltbild sieht man nicht das, was gewöhnlich Wirklichkeit
heißt und Fülle hat, sondern eine spezifische Unwirklichkeit, mit der, da sie eine Seite
alles Wirklichen ist, sich die allergrößten Wirkungen in dieser erzielen lassen. Dies
Weltbild umfaßt eben das, was an der Natur uns durch Berechnung ganz unterworfen
ist, also vor allem die Welt nach ihrer räumlichen und zeitlichen Seite.
Die Befriedigung durch das naturmechanische Weltbild ist um so größer, je mehr
die von ihm getroffenen Erscheinungen ihrem Wesen nach in ihm aufgehen können,
d.h. soweit in ihnen etwas Meßbares steckt: Durch Theorien lassen sich Resultate von
Prozessen vorausberechnen, die experimentell bestätigt werden können, so daß eine
kontinuierliche Wechselwirkung zwischen Theorie und gemessenem Faktum stattfin-
det. Wenn aber dieses Weltbild sich einmal der Köpfe bemächtigt hat, so überträgt es
sich auf alles. Es wird befriedigend selbst da, wo es seine wesentlichen Merkmale: theo-
retische Berechnung von experimentell zu kontrollierenden Effekten, verliert. Man
denkt nur einfach die Phänomene um in theoretische Vorstellungen von etwas zu-
grunde Liegendem, man behält nicht eine beherrschende, sich in sich entwickelnde
Theorie, sondern fabriziert nach Belieben überall ad hoc Theorien. Man fordert nicht,
daß durch Theorie Neues entdeckt, nicht, daß Konsequenzen der Theorie bestätigt
werden, sondern man ist froh, die Fülle der anschaulichen Fakten durch ein leeres
theoretisches Schema verdrängen zu können. Man hat den Sinn der Beherrschung und
Vorausberechnung als den entscheidenden verloren und freut sich der bloßen Phan-
tasien in den Formen des mechanischen Weltbildes. So erfreut sich der Psychiater an
»Hirnmythologie«,171 der Psychologe an massenhaften Theorien von Außerbewußtem.
Man legt auf Messen, Zählen, Experimentieren solchen Wert, daß alles dieses als blo-
ßer Betrieb Selbstzweck wird, und man nicht mehr weiß, wozu denn alles geschehe.
Man tröstet sich damit, das werde alles schon irgendwann fruchtbar sein. So wirkt das
mechanische Weltbild abtötend auf alle Anschaulichkeiten, indem es, sie verarmend,
einzwängt. Der Mensch glaubt damit etwas erkannt zu haben, während er bloß die For-
men ohne den eigentlichen Sinn übertragen hat. Nichts in der Welt gibt es, das nicht
auf diese Weise mechanistisch umgedacht würde: Das Leben ist nur eine sehr kompli-
zierte Maschine; die Welt überhaupt verfällt nach mechanistischen Gesetzen dem
»Wärmetod«; mechanische Analogien sollen Lebenserscheinungen erklären; das Le-
ben der menschlichen Gesellschaft, der Staaten, wird mechanisch, z.B. geographisch
160 gedacht. Der Mensch ist Atom, das in der Gesellschaft Verbindungen eingeht. | Das
Leben der menschlichen Einzelseele wird in Analogie zu physikalisch-chemischen
Vorstellungen durch Elemente und ihre Verbindungen erklärt.
Das mechanische Weltbild arbeitet in den Theorien mit letzten Kräften, letzten Par-
tikeln und mit Raum und Zeit als etwas Festem, Absolutem, mit etwas, das gleichbleiben-
dem Maße unterworfen ist. Es scheint nur eine leere Endlosigkeit der Teile, des Raumes,
der Zeit, keine Unendlichkeit für das mechanische Weltbild zu existieren. Die Spren-
 
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