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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0299
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Psychologie der Weltanschauungen

Mit solcher Ordnung erwirbt der Philosoph nicht bloß sich ein Weltbild, sondern ermöglicht
es dem gelehrten Studium, in seiner Breite auf ein höheres Niveau des Geistes unter seiner dis-
ziplinierenden Führung zu kommen. Nun vermag es ein jeder zu sehen. Insofern ist auch der
Ordner ein Schaffender, als er nicht katalogisiert, sondern die Zusammenhänge der geschauten
Einsichten herstellt.
Die geschilderten Typen seien zusammenfassend charakterisiert:
Der schauende Typus ist der originalste, in Existenz und Denken einheitlichste, als
existierende Persönlichkeit wirksamste. Er ist auf das konkret Geschaute, und sei es das
Ganze, unsystematisch gerichtet. Er ist aphoristisch, jedoch nicht »geistreich«, son-
dern so, daß jedes Fragment dem Sinn und der persönlichen Existenz nach aus einem
Ganzen kommt. Diese Persönlichkeiten sind Feinde des Systematischen, des bloß Er-
rechenbaren, dessen, was von dem Wesentlichen, der Existenz, ableitet.
215 | Der substantielle Denker ist im philosophischen Begriffsschatz der schöpferische.
Ihm liegt mehr an der Sache als an der Existenz. Er sucht Zusammenhang und logische
Begründung. Auf Begrenzung, Vergleichung, auf Isolierung und dann Beziehung der
Probleme und auf exakte gründliche Arbeit der ratio kommt es ihm an.
Im leeren Denken wird die Sache und die persönlich-philosophische Existenz gleich-
gültig. Es bleibt das Formale, die Lust gleichsam am Artistischen in der ratio. Die
Zwecke sind viele, von dem Macht- und dem Wirkungswillen der Eristik bis zur Atara-
xia278 des Skeptikers.
Die ordnende Rezeptivität hat das Ideal gleichzeitig breitester, mannigfaltigster und
das Wesentliche auffassender Forschung des gesamten Materials. Sie steht immer an-
gesichts des von Menschen geschaffenen Geistes, in Distanz zu den Dingen, nicht
selbst erfahrend und schaffend angesichts von Leben und Welt. Es entsteht ein umfas-
sendes, ausgleichendes, bewahrendes Sehen und Ordnen, eine milde, konziliante Art.
Auf Grund eines rücksichtsvollen und weltweiten Beherrschens des Erworbenen ent-
steht ein wissenschaftlicher Schulbetrieb, der die wunderliche Doppelheit von Be-
scheidenheit und Allwissenheit besitzt. In der Aufstellung von Systemen, die als ge-
schlossene und einheitliche nur diesem Typus eigen sind, werden zugleich
intellektuelle und ästhetische Bedürfnisse befriedigt. Ein geistiges Machtbewußtsein
wirkt sich aus. Die persönliche Existenz wird völlig gleichgültig, an ihre Stelle tritt die-
ses Bauen, das gelegentlich zu einem Spielen wird. Das geschlossene System verlangt
Einheit des Prinzips. Aus einem oder wenigen Grundsätzen möchte das ganze philo-
sophische Wissen abgeleitet werden. Das Ganze soll mit einem Blick umfaßt sein.
Die Typen lassen sich auch indirekt durch ihre Wirkung charakterisieren: In der
Wirkung auf uns, auf die Nachwelt, sind die schauenden Philosophen erschütternd -
wenn sie nicht ganz gleichgültig lassen. Die substantiellen Denker haben eine ähnli-
che, aber zugleich eine disziplinierende Wirkung, während die Schauenden uns nur
in ein Chaos des Staunens, Fragens, Schauens stürzen. Die leeren Denker geben nur
die formale Schulung und durch die Negativität erst das volle Bewußtsein des Positi-
 
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