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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0309
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Psychologie der Weltanschauungen

will, ich bin.292 - Kierkegaard legt als Wertreihe die Stadien zugrunde, die er das äs-
thetische, das ethische und das religiöse nennt, von denen jedes folgende das frühere
mit in sich aufnimmt.293
Allen Wertrangordnungen gegenüber ist die Frage möglich: muß denn unter allen
Umständen Rangordnung sein? Zwar ist eine Existenz ohne Werte nicht denkbar, aber
225 diese brauchen doch nicht | geordnet und nicht rangverschieden zu sein? An dieser
Frage entspringt der tiefste Gegensatz in allem Verhalten zu Werten. In dem einen
Grenzfall wird keine Wertkollision erlebt. Alles wird erfahren und genossen, wie es
kommt. Der Wert wird jeweils isoliert. Es herrscht die ästhetische Einstellung. Das Ver-
halten ist im ganzen ein passives, mehr stimmungsmäßiges. Im anderen Grenzfall
kommt es gerade auf Zusammenhang an. Das Leben geht hier auf Totalität. Eine Isolie-
rung des einzelnen Wertes wird durch die Frage unmöglich gemacht, die diese Erfah-
rung und dieses Handeln mit anderen vergleicht. Im Leben soll Einstimmigkeit ent-
stehen, der Mensch will mit sich selbst nicht in Widerspruch leben. In jenem ersten
Falle gibt es keine Rangordnungen bindender Art; wenn faktisch einmal in realer Si-
tuation vorgezogen wird, so wird im nächsten Falle die Rangordnung ohne Prinzip ge-
rade umgekehrt sein, Widerspruch mit sich selbst wird nicht empfunden. In diesem
zweiten Fall aber wird fortwährend der Kampf der Werte erlebt, die unvermeidlich un-
tereinander in Kollision geraten. Wenn auch für die bloße Betrachtung »sub specie
aeternitatis« ein harmonisches Wertsystem besteht, im Leben wird überall Wahl und
Entscheidung nötig.
Diese Entscheidung kann in einem typischen Gegensatz zwei Gestalten annehmen:
in einem Grenzfall führt das Entweder-Oder zum Ausschluß ganzer Wertgebiete; es wird
unterdrückt, verneint. Irgendwo herrscht Verzicht im eigentlichen Sinn. Im andern
Grenzfall leitet die Idee einer hierarchischen Ordnung: was im Kollisionsfall vernichtet
wird, soll soweit irgend möglich nicht absolut vernichtet werden. Alles soll seinen Ort
erhalten, jeder Trieb unter Disziplin und Maß irgendwo zur Befriedigung kommen.
Zwar führt im konkreten Einzelfall die Kollision zu Vernichtungen, aber im ganzen wird
zu bewahren versucht. Es herrscht Disziplin, und es herrscht entscheidende Wahl im
Einzelfall, wenn Wahl unumgänglich ist, aber es herrscht nirgends Askese. Im ersten
Fall gibt es ein absolut Böses, der Weg ist streng und absolut, im zweiten Fall gibt es
nichts endgültig Böses, der Weg ist offen, frei, human. In den großen griechischen und
christlichen Gestalten sind beide Typen anschaulich. Beide gehen charakteristische
Entartungen zum Ästhetizismus einerseits, zum bornierten Fanatismus andrerseits ein.
In der Geschichte des philosophischen Denkens spielt die Frage, was das höchste
Gut sei, eine große Rolle. Philosophen glaubten immer wieder, durch Nachdenken zur
Einsicht darüber zu kommen und es lehren zu können. Dieses Nachdenken setzt vor-
aus, daß es überhaupt ein höchstes Gut gebe, und es ist letztlich immer nur - sofern es
226 nicht wesenloses Gerede ist - Objektivierung und Lehre | dessen, was gelebt wird, was
nur lebendig erfahren, nicht einfach gewußt und in Betrachtung eingesehen werden
 
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