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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0311
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Psychologie der Weltanschauungen

auf das Ganze. Wollen aber kann man nur Einzelnes, das Ganze kann man nicht wol-
len, da man endliches Wesen und nicht Gott ist. Das höchste Gut, in einem System
von Formeln bezeichnet, legt das Leben fest und läßt es erstarren'). Das »Leben« als
höchstes Gut ist eben nicht, sondern ist immer Prozeß und etwas, das nicht als Ganzes
fertig gewollt, auch nicht als Ganzes erkannt werden kann, sondern in dem gewollt
wird, und zwar so, daß das letzte Telos dunkel, Idee bleibt. Die für das Leben ungefähr-
lichste Lehre vom höchsten Gut ist daher die möglichst rein formale. Daher ist die
KANTische Ethik, sofern sie in diesem Sinne verstanden wird, die in der Wirkung le-
bendigste. Kant läßt sich nicht in jene Reihe der Lehrer eines höchsten Guts stellen.
3. Das höchste Gut pflegt ein zweideutiges Schillern zwischen einem Gegenstand des Wol-
lens und des lustvollen Betrachtens zu haben. Wäre das höchste Gut vollendet, so wäre kein
Wille mehr nötig. So wird das höchste Gut zur Welt, indem man sie als Wert betrachtet;
und was einzeln Gegenstand des Wollens ist, wird zugleich Sinn des Weltgeschehens.
Hier gibt es nun eine entgegengesetzte Einstellung, die zu charakterisieren ist:
a) Der Mensch sieht die Welt als eine Entwicklung. In dem Geschehen selbst liegt Rich-
tung, Telos. Der Mensch hat Vertrauen in die Natur der Dinge und den Ablauf der Welt.
Das Einzelne hat seine »Bestimmung«, seine »Mission«. Man handelt mit, aber man
weiß vorher, wohin die Entwicklung notwendig, der Bestimmung nach, geht. Man hat
228 Ruhe in der Gewißheit, daß das | gegenwärtige Stadium ein notwendiges, ein seine Be-
stimmung erfüllendes ist. Bejahung der gegenwärtigen Zustände ist ebenso möglich
wie ein Leben in den vorweggenommenen zukünftigen, die ja gewiß kommen. Man
hat Glauben an das Dasein, auch sofern man nicht dabei ist, glaubt an die gute Men-
schennatur und läßt sich durch nichts außer Fassung bringen.
b) Der entgegengesetzt geartete Mensch fühlt: es kommt auf mich an. Die Entwick-
lung des Daseins ist nicht einfach vorherbestimmt, nicht gewiß, und ein Endziel ist
von uns nicht gewußt. Es kommt auf jeden Einzelnen und auch auf mich an, wie die
Welt wird. Es ist die Weltentwicklung kein notwendiger, sondern problematischer und
darum gefährlicher Prozeß. Es gibt nicht bloß Hemmungen, Rückschläge in einer letzt-
hin doch gewissen Linie, sondern die Richtung selbst muß von uns bestimmt werden.
Wenn dieser Mensch auch ein letztes Ziel im Objektiven nicht weiß, so hat er doch
den Imperativ seines Lebens: unter weitesten Horizonten seines Wissens und realen
Erfahrens konkret für ihn sichtbare und wertvolle Ziele zu handeln und zu leben, wohl
wissend, daß dieses nicht die Ziele überhaupt, sondern ein Einschlag und ein Begrenz-

i Als Beispiel diene die Lehre, das Glück sei das höchste Gut: jetzt wird bald nicht mehr gefragt, was
Glück sei, sondern die Mittel angegeben in einer Klugheitslehre. Man soll sich mäßigen, soll ab-
wägen, was das größte Glück sei, also das Dauerhafte dem Vorübergehenden, das Stärkere dem
Schwächeren vorziehen. Da Glück immer irgendwie auch Unglück und Unlust in der Realität zur
möglichen Kehrseite hat, ist es schließlich das Beste, die Bedürfnisse einzuschränken: je weniger
Bedürfnisse, desto glücklicher. Kurz, es ist eine Lehre, den Enthusiasmus aufzugeben, das bloße
Dasein zu bejahen, aber das Leben als Prozeß zu unterbinden; es soll alles bleiben, wie es ist usw.
 
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