Psychologie der Weltanschauungen
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Es gibt solche rationale Weltanschauungen, die Sinn für das »Fließende« haben,
die keine endgültige Formel für alle, kein Eebensrezept für jedermann und jede Zeit
wollen, weil sie das Relative erkennen, weil sie den Werde- und Schaffensprozeß sehen,
weil sie begreifen: Eines schickt sich nicht für alle. Und nun beginnen sie den Versuch,
das Unendliche selbst in einer Weltanschauung zu formulieren. Sie haben die Tiefe,
daß sie irgendwo das Unendliche und das heben sehen, sie begehen, vom Standpunkt
des hebens gesehen, den Fehler, daraus doch wieder ein endliches Bekenntnis und Re-
zept zu machen.
Der faktischen höchsten hebendigkeit stellt diese Weltanschauung eine Theorie
gegenüber von dieser hebendigkeit. Eine solche Theorie, die als bloß betrachtende und
analysierende psychologische Theorie möglich ist, wird als lehrende Weltanschauung
zu einer Position gedrängt, die sich in lauter Antinomien bewegt:
1. Sie bewegt sich zwischen den Gegensätzen: »Alles ist richtig« und »alles ist falsch«,
was im lebendigen Strom der seelischen und geistigen Entwicklung des Menschen, des
Individuums und der Gattung auftaucht. Eine solche doppelte Auffassung aller mögli-
chen Stellungen ist aber eine bloße Betrachtung, keine Weltanschauung als Kraft. Sie
gibt keine Impulse, sondern bloß Wissen. Unmöglich kann der Mensch sie auf sich
selbst ernstlich anwenden, wenn er die Verantwortung tatsächlichen hebens und Han-
delns, sei es im Ausbauen des Gehäuses aus schon geschehenen Impulsen, sei es in der
letzten Verantwortung der Krisis, hat. Der Versuch, in der überheblichen Meinung, man
vermöge alle menschenmöglichen Positionen zu kennen und zu übersehen, die Tota-
lität der Positionen als das Wahre des Geistes zu fassen und in einem System darzustel-
len, | das dann als Ganzes die Weltanschauung sei, die jedes Einzelne darin nicht zu
sein vermöge, scheitert daran, daß das Unendliche hier endlich gemacht werden soll.
2. Auf die Frage: Was soll ich tun? gibt diese Weltanschauung eigentlich die Antwort:
Leben sollst du und die Stadien durchleben zu neuen Krisen; mit einem Worte: Sie for-
dert, ein dämonischer Mensch zu sein. Das aber kann der Mensch nicht wollen, weil
er dazu keinen Angriffspunkt für das Wollen hat. Was kann der Mensch wollen unter
der Voraussetzung, daß er nicht bloß ins Leere wollen, sondern einen Angriffspunkt
ergreifen soll? Er kann nur konkret an Zwecken und Sachen arbeiten, z.B. rationale
Konsequenzen verfolgen, das Gehäuse ausbauen; er kann Kräfte in sich hemmen und
ungehemmt wachsen lassen, er kann Bedingungen herbeiführen, die günstig oder un-
günstig - nach seinen psychologischen und anderen Kenntnissen - sind. Er kann in
dem Chaos der Triebkräfte auswählen, aber auch nur, indem er inhaltlich durch an-
dere Triebkräfte bestimmt wird. Er kann nicht nur das Gehäuse, in dem er jeweils lebt,
weiter ausbauen, sondern selbst eine herannahende Krise hemmen und sich herum-
drücken (die Techniken des Trostes, des Sichabfindens, der Sophismen). Hier ist der
Wille lebensvernichtend, dort war er lebensfördernd. Der Wille selbst ist ein bloßes
formales Instrument, das von sich aus gar nicht schaffen, sondern nur wählen, hem-
men und fördern kann, was ohne ihn da ist. Das Leben und der Lebensprozeß muß da
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Es gibt solche rationale Weltanschauungen, die Sinn für das »Fließende« haben,
die keine endgültige Formel für alle, kein Eebensrezept für jedermann und jede Zeit
wollen, weil sie das Relative erkennen, weil sie den Werde- und Schaffensprozeß sehen,
weil sie begreifen: Eines schickt sich nicht für alle. Und nun beginnen sie den Versuch,
das Unendliche selbst in einer Weltanschauung zu formulieren. Sie haben die Tiefe,
daß sie irgendwo das Unendliche und das heben sehen, sie begehen, vom Standpunkt
des hebens gesehen, den Fehler, daraus doch wieder ein endliches Bekenntnis und Re-
zept zu machen.
Der faktischen höchsten hebendigkeit stellt diese Weltanschauung eine Theorie
gegenüber von dieser hebendigkeit. Eine solche Theorie, die als bloß betrachtende und
analysierende psychologische Theorie möglich ist, wird als lehrende Weltanschauung
zu einer Position gedrängt, die sich in lauter Antinomien bewegt:
1. Sie bewegt sich zwischen den Gegensätzen: »Alles ist richtig« und »alles ist falsch«,
was im lebendigen Strom der seelischen und geistigen Entwicklung des Menschen, des
Individuums und der Gattung auftaucht. Eine solche doppelte Auffassung aller mögli-
chen Stellungen ist aber eine bloße Betrachtung, keine Weltanschauung als Kraft. Sie
gibt keine Impulse, sondern bloß Wissen. Unmöglich kann der Mensch sie auf sich
selbst ernstlich anwenden, wenn er die Verantwortung tatsächlichen hebens und Han-
delns, sei es im Ausbauen des Gehäuses aus schon geschehenen Impulsen, sei es in der
letzten Verantwortung der Krisis, hat. Der Versuch, in der überheblichen Meinung, man
vermöge alle menschenmöglichen Positionen zu kennen und zu übersehen, die Tota-
lität der Positionen als das Wahre des Geistes zu fassen und in einem System darzustel-
len, | das dann als Ganzes die Weltanschauung sei, die jedes Einzelne darin nicht zu
sein vermöge, scheitert daran, daß das Unendliche hier endlich gemacht werden soll.
2. Auf die Frage: Was soll ich tun? gibt diese Weltanschauung eigentlich die Antwort:
Leben sollst du und die Stadien durchleben zu neuen Krisen; mit einem Worte: Sie for-
dert, ein dämonischer Mensch zu sein. Das aber kann der Mensch nicht wollen, weil
er dazu keinen Angriffspunkt für das Wollen hat. Was kann der Mensch wollen unter
der Voraussetzung, daß er nicht bloß ins Leere wollen, sondern einen Angriffspunkt
ergreifen soll? Er kann nur konkret an Zwecken und Sachen arbeiten, z.B. rationale
Konsequenzen verfolgen, das Gehäuse ausbauen; er kann Kräfte in sich hemmen und
ungehemmt wachsen lassen, er kann Bedingungen herbeiführen, die günstig oder un-
günstig - nach seinen psychologischen und anderen Kenntnissen - sind. Er kann in
dem Chaos der Triebkräfte auswählen, aber auch nur, indem er inhaltlich durch an-
dere Triebkräfte bestimmt wird. Er kann nicht nur das Gehäuse, in dem er jeweils lebt,
weiter ausbauen, sondern selbst eine herannahende Krise hemmen und sich herum-
drücken (die Techniken des Trostes, des Sichabfindens, der Sophismen). Hier ist der
Wille lebensvernichtend, dort war er lebensfördernd. Der Wille selbst ist ein bloßes
formales Instrument, das von sich aus gar nicht schaffen, sondern nur wählen, hem-
men und fördern kann, was ohne ihn da ist. Das Leben und der Lebensprozeß muß da
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