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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0426
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Psychologie der Weltanschauungen

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von diesen, die der Religion neue Bewegung gegeben haben, haben Krisen ihrer ganzen
Lebensgesinnung durchgemacht. Augustin hat die Genüsse der Welt, die Fülle anti-
ker Kultur leidenschaftlich durchgekostet, bis er zu dem großen christlichen Kirchen-
vater wurde. Franz von Assisi hat nach einer Jugend üppiger Lebensführung, ritterli-
cher Neigungen erst in den zwanziger Jahren bei einer Krankheit die Wendung zur
asketischen Christlichkeit in der Nachfolge Jesu gewonnen. Ignatius von Loyola450
machte ein leidenschaftliches, stürmisches Kriegerdasein durch, ohne viel an Religion
zu denken und sublimierte sich zu dem Streiter Christi erst auf dem Krankenbett als
Verwundeter. Sie alle haben ihre Lebensgesinnung und Religio | sität so ernst und ent-
scheidend nehmen können, nachdem sie vorher alles das Andere erfahren und genos-
sen haben. Sie selbst stellen eine Echtheit dar, die vielleicht unmöglich ist, wenn jene
vorhergehenden Stadien in einem Leben fehlen. Und sie stellen unvermeidlich doch
die Forderung an Andere, von vornherein ohne jene Vorbedingungen, die sie selbst
überwunden haben, so zu sein und sein zu wollen, wie sie zuletzt es erreicht haben. Das
unterscheidet auch die ganze Atmosphäre in Tolstois Religiosität von der Bauernreli-
giosität, die er für die wahre und allein wünschenswerte hält: daß Tolstoi selbst, nach-
dem er die ganze Welt in ihren Möglichkeiten ausgekostet hat, hier endigt und darin
eine Ruhe findet, die der Bauer so nicht kennt.451 Nur scheinbar kann Tolstois Religio-
sität sich mit der Bauernreligiosität verwandt fühlen. Kein Bauer kann diese Religiosi-
tät haben und Tolstoi selbst als Bauer würde sie nicht haben. Er ist ihrer nur fähig am
Ende eines solchen Lebens, welches geführt zu haben eben Voraussetzung für seine
ganze Art religiösen Fühlens und Wünschens ist. Und nun will er jedermann dazu an-
leiten, von vornherein zu sein, wie er im Alter wurde.
Fragt man, welche Lebenslehren dem Leben denn näherkommen, die organischen
oder die absolutistischen, ausschließenden, so kann man nur konstatieren: beide sind
dem Leben, da sie Gehäuse sind, gleich fern. Aber die einseitig absolutistischen Lehren
machen Bewegung und Gegensatz, die organischen haben etwas Konservatives, Harmo-
nisierendes, zur Ruhe Bringendes, das sie in der Wirkung unlebendiger erscheinen läßt.
Doch läßt sich das wohl nicht allgemein behaupten. Jedenfalls steht aber die organische
Lehre dem Leben nicht näher und täuscht insofern den Betrachter. Das dämonische
(d.h. organische, antinomisch-synthetische) Leben läßt sich auf keine Weise auf Rezepte
bringen, die es zu erreichen erlauben. Es ist nicht Willensaufgabe, sondern eben Leben.
Da aber alles Leben jeweils irgendwelche relativ feste Gehäuse als Struktur braucht, ist
es gewiß denkbar, daß die verschiedenen Lebensreglementierungen verschieden gün-
stige Vorbedingungen geben, innerhalb deren solch ein individuelles Leben auf eigene
Verantwortung möglich ist. Jeder Kodex wird einem Typus besonders angemessen sein.
Aber die organischen Lebenslehren werden - wie eindrucksvoll sie immer sein mögen -
an sich nicht mehr zu einem solchen Leben bringen als andere Lebenslehren. Unbere-
chenbar ist das Maß von Gebundenheit und Freiheit, das dem einzelnen Menschen not
täte, das ihm Lebendigste zu erreichen. Nur daß beides nottut, können wir wissen.

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