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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0438
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Psychologie der Weltanschauungen

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piellen, konsequenten Gehäusen folge; es drängt zur Bewegung in unendlicher Dia-
lektik, welche durch die rationalen Totalitäten als einen Bildungsstoff vermittelt wird;
aber über beides hinaus erfährt es, daß ein Mehr dahinter steckt, daß das Dialektische
nur Medium, nicht fordernde Lehre ist. Dabei erlebt es, daß zwar in direkter Mittei-
lung nur dieses Rationale der Prinzipien und des Dialektischen vorhanden ist, daß aber
hinter beiden die immerfort inkommunikable Idee steckt, die indirekt mitgeteilt wird
(wie Kierkegaard es ausdrückt).493 Nun begreift das Leben, daß indirekte Mitteilung
da ist: sie kann zwar, wie das Leben selbst, nicht gewollt werden, gewollt werden kann
nur die unendliche Entfaltung des direkt mitteilbaren Rationalen. Solchen Willen zum
Rationalen bewahrt diese Stellung des Geistes, steigert ihn vielleicht noch ganz anders
ins Grenzenlose, kennt, solange sie echt ist, keine Einschränkung des Rationalen. Aber
sie schützt das Leben vor den Sackgassen der generell verabsolutierten Prinzipien und
organischen Lebenslehren.
Diesen Stellungen entsprechend lassen sich unter den prophetischen Lehrern, d.h.
denen, die lehrend auf Menschen eine Wirkung übten, drei typische Gestalten unter-
scheiden:
1. Die Lehrer bestimmter Prinzipien mit allen Konsequenzen, die mit dem Pathos ge-
fundener Wahrheit Regeln der Lebensführung und des Handelns aus rationalen
Grundsätzen bestimmt und undialektisch entwickeln, alles andere als falsch verwer-
fend. Es sind großartige, geradlinige, stileinheitliche Gestalten, wie z.B. Aristipp,494
Antisthenes,495 die Epikureer und Stoiker.
2. Die Lehrer der Totalität des Lebens, die allem seinen Ort geben, nirgends einseitig
bleiben, alle Gegensätze als an ihrer Stelle berechtigt erfassen, nichts über das Knie bre-
chen. Sie sind umfassend, Gehäuse der rationalen Bildung, aber in ihrem Reichtum,
in ihrer rationalen Vollendung doch im Letzten, was ihre echte, lebendige Existenz an-
geht, dunkel, verschwommen, charakterlos. Es sind die großen Systembildner vom
Stile des Aristoteles, Thomas von Aquino, Hegel.
3. Die Propheten indirekter Mitteilung, d.h. solche Lehrer, die es ablehnen, Propheten
zu sein, die nur reizen, aufmerksam machen, in Unruhe versetzen, die nur die Sachen
problematisch machen, aber keine Vorschriften geben, nicht lehren, wie zu leben ist;
die also dem Scheine nach einreißen, in Verzweiflung bringen, | Schwierigkeiten ma-
chen, und doch nichts »Positives« geben. Sie haben den stärksten Drang zur Kommu-
nikation, jedoch immer in Gegenseitigkeit. Die Prinzipienlehrer wollen Gefolgschaft
und Gehorsam gegenüber der eingesehenen und formuliert vorhandenen Wahrheit.
Die Totalitätslehrer wenden sich gar nicht an den Einzelnen, sondern geben wie selbst-
verständlich das Gehäuse für alle. Die Philosophen indirekter Mitteilung drängen sich
innerlich als Einzelne zum einzelnen Menschen, appellieren an das Leben, das im An-
deren ist, dem sie durch Reize und durch Entwicklung des Mediums unendlicher Re-
flexion zum Wachstum helfen, das sie aber nicht als imperative Lehre selbst geben wol-
len. Sie stoßen zurück, wenn man anbetend in Gefolgschaft treten will, sie lieben die

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