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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0445
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Psychologie der Weltanschauungen

in keiner Gestalt findet er Ruhe. Das Allgemeine ist ja nicht da, sondern wird immer
nur gesucht; sowie es als endgültig Allgemeines auftritt, ist es die endliche Gehäuse-
starrheit, wenn auch das Ganze dieses Gehäuses noch so reich und mannigfaltig ist.
Die Willkür des Einzelnen dagegen ist ebenso endlich, ist zufällig, isolierend, ohne zu
erfüllen. Das lebendige Dasein zwischen diesen Gegensätzen beschreibt z.B. Kierke-
gaard in der Gestalt des existierenden Denkers. Das wissenschaftliche Denken ist das
objektive, das Denken, bei dem es auf das Individuum nicht ankommt, es ist Beruf,
eine Einzelsphäre, keine lebendige Weltanschauung. Wenn ich mich diesem Allgemei-
nen, im Sinne des Objektiven zeitlos Wahren, unterwerfe und nur Sinn zu haben
glaube, soweit ich das tue, so verliere ich die zeitliche Existenz, lebe aber doch faktisch
in der Zeit weiter und werde ein komisches Doppelwesen, »ein phantastisches Wesen,
das im reinen Sein der Abstraktion lebt, und eine zuweilen traurige Professorengestalt,
welche von jenem abstrakten Wesen beiseite gestellt wird, wie man einen Stock
wegstellt«1).501 Das abstrakte Denken ist nur »sub specie aeterni« und sieht vom kon-
kreten Werden der Existenz ganz ab. Leben ist nur, was ein Individuum durchdringt,
nicht was ihm äußerlich anklebt, bloß ein Gehäuse ist. Diese Objektivität täuscht eine
Weltanschauung als lebendige vor und läßt die faktische individuelle Existenz zufäl-
lig, kleinlich, willkürlich, ungeistig zurück. Das Denken ist aber mehr als nur wissen-
schaftliches Denken, es ist das Medium des Lebens des Geistes überhaupt. So gewiß es
nur gedeihen kann, wenn es als wissenschaftliches Denken seine Sphäre hat, so doch
385 vor allem nur, | wenn es der Existenz lebendig entspringt (und von daher auch dem
wissenschaftlichen Denken erst Sinn und Richtung gibt, indem es der bloßen Objek-
tivität als solcher ein Pathos verleiht). Wenn ich weltanschaulich, philosophisch
denke, so stoße ich an die Grenzen, an die Paradoxe, erfahre die Leidenschaft des Den-
kens, das sich selbst vernichten will, erfahre ich Impulse und Inhalte, die nicht mehr
begründbar, wenn auch im objektiven Medium zum Teil ausdrückbar sind. Vor allem
erfahre ich, daß es bei aller Wahrheit nur darauf ankommt, nicht daß ich sie weiß, son-
dern daß ich sie selbst produziere, von ihr durchdrungen werde. Während es im objek-
tiven Denken nur auf Betrachtung der Möglichkeiten, auf gleichmäßige Berücksichti-
gung aller Gegenstände ankommt, gibt es im subjektiven Denken die Entscheidung.
Faktisch sind die Begriffe und Fragen des subjektiven Denkens meistens solche, die das
wissenschaftliche Denken gar nichts angehen, wenn sie auch überall an den Grenzen
auftauchen. Z.B. kann man beliebig über die Unsterblichkeit nachdenken, dabei viel
Gesichtspunkte, Denknotwendigkeiten, Beweise entwickeln, die Frage zerlegen, präzi-
sieren, ohne je ein einsichtiges Endresultat zu gewinnen. Aber diese ganze Denkregion
ist darum nicht gleichgültig überhaupt. Den subjektiven, existierenden Denker gehen
zwar gerade Beweise weniger an, aber er fühlt den Impuls der Entscheidung, wenn er sie
auch nie, solange er echt bleibt, objektiv behauptet. Darum läßt Plato den Sokrates,

W. W. VII, 2.
 
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