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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0479
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386

Psychologie der Weltanschauungen

als prosaische Berauschung in der Verständigkeit, als Geschäftigkeit, als Begeisterung für die
Zeitlichkeit usw.«1).571
Mannigfaltig sind auch die Sphären der Transformation. Von körperlichen Erscheinungen, die
gewöhnlich unter medizinische Gesichtspunkte fallen, bis zu den Formen des Selbstbewußtseins
gibt es hier eine Reihe von »Unfreiheiten«, in denen die Seele sich festrennen kann. Wie in der
Schwermut, die unerklärlich da ist, sich äußerlich in einem bloßen Zustande, einer bloßen Ge-
gebenheit manifestiert, daß der Prozeß des Offenbarwerdens Hemmungen erleidet, so auch in
»überspannter Sensibilität, Irritabilität, Neurasthenie, Hysterie, Hypochondrie usw.«"),572 so auch
in festgehaltener Orthodoxie, in Dressur der Frömmigkeit, in dem Klammern an »objektive«
Wahrheit. Immer fühlt der Mensch Angst, wenn diese Festigkeiten durchdrungen, offenbar wer-
den, verstanden werden sollen; er sträubt sich gegen die Klärung, weil er sich in einem begrenz-
424 ten Selbst | festgefahren hat, das er als das wesentliche Selbst statt des Selbstwerdens nimmt. Diese
Erscheinungen konnten als ihn bindende, für ihn nicht durchdringliche (d.h. als »Krankheiten«
oder als »Wahrheiten« genommene) Gebilde nur in der Transformation entstehen, als er abbog
vom Prozesse des Offenbarwerdens, der unaufhörlich in Frage stellt, z.B.:
»Welche Anstrengungen werden nicht in unserer Zeit gemacht, einen neuen Beweis für die
Unsterblichkeit der Seele zu führen; und merkwürdig genug, während dies geschieht, nimmt
die Gewißheit ab. Der Gedanke an die Unsterblichkeit trägt in sich eine Macht, seine Konse-
quenzen haben einen Nachdruck, seine Annahme bringt eine Verantwortung mit sich, die viel-
leicht das ganze Leben auf eine Weise umgestalten würde, welche man fürchtet. Darum hilft
man sich und beruhigt seine Seele, indem man seine Gedanken anstrengt, einen neuen Beweis
zu führen ... Jede derartige Individualität, welche Beweise für die Unsterblichkeit der Seele zu
führen weiß, ohne doch selbst überwiesen zu sein, wird nun stets vor jedem Phänomen Angst
haben, das sie derart berührt, daß sich ihr das weiterführende Verständnis davon aufdrängt, was
es heißen will, daß der Mensch unsterblich ist. Es wird sie stören, es wird sie unbehaglich be-
rühren, wenn ein ganz simpler Mensch ganz simpel von der Unsterblichkeit spricht«"')-573
»Ein Anhänger der strammsten Orthodoxie ... weiß alles, was zu wissen ist; er verbeugt sich
vor dem Heiligen; die Wahrheit ist ihm ein Inbegriff von Zeremonien ... das weiß er alles wie
der, welcher einen mathematischen Satz beweisen kann, wenn man die Buchstaben ABC
braucht, nicht aber, wenn man D E F setzt. Darum wird ihm angst, sowie er etwas hört, was nicht
wörtlich dasselbe ist«iv).574
»So weiß der Fromme, daß das Religiöse absolut kommensurabel ist, daß es nicht etwas ist,
das gewissen Gelegenheiten und Augenblicken zugehört, daß man es vielmehr jeden Augen-
blick bei sich haben kann. Indem er es aber nun kommensurabel machen soll, ist er nicht frei;
man sieht, wie er ganz sachte vor sich selbst hinzählt; man sieht, wie er trotzdem verkehrt auf-
tritt und mit seinen himmlischen Blicken, seinen gefalteten Händen zur unrechten Zeit kommt.
Darum ist einer solchen Individualität vor dem, der diese Dressur nicht hat, angst, und so muß
sie zu ihrer Stärkung zu so großartigen Betrachtungen greifen wie der, daß die Welt die From-
men hasse«v).S7S

1 V, T5T.
ii V, T36.
iii V, T38ff.
iv V, T39.
v V, T40.
 
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