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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0481
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Psychologie der Weltanschauungen

sich selbst nicht, erkennt sich selbst ganz buchstäblich nur am Rock, er merkt am Äußeren, daß
er ein Selbst hat.
Ist in der Unmittelbarkeit etwas Reflexion enthalten, so will der Mensch zwar kein anderer
mehr werden, aber er macht es wie ein Mann, der seine Wohnung verläßt, um sie von außen zu
betrachten und zu warten, bis die Übelstände vorübergehen. Solange die Schwierigkeit besteht,
darf er, wie es mit besonderer Prägnanz heißt, nicht zu sich selbst kommen; aber es geht wohl
vorüber, es ändert sich vielleicht, die düstere Möglichkeit wird wohl vergessen. Währenddem
kommt er daher sozusagen nur ab und zu zu sich selbst auf Besuch, um nachzusehen, ob die
426 Veränderung nicht eingetreten ist. Und sobald sie eingetreten ist, zieht er wieder heim, »ist | wie-
der er selbst«, wie er sagt, doch bewirkt dies nur, daß er wieder beginnt, wo er aufhörte.
Hier hat der Mensch sich, gleichsam sich duckend, dem Prozesse der Innerlichkeit entzogen.
Tritt aber keine Veränderung der Schwierigkeiten ein, so geht das nicht. Er hilft sich auf andere
Weise. Er biegt von der Richtung nach innen ... um in Wahrheit ein Selbst zu werden, ganz ab.
Die ganze Frage nach dem Selbst in tieferem Sinne wird zu einer Art blinder Tür im Hintergrund
seiner Seele, einer Tür, hinter der nichts ist. Er übernimmt, was er in seiner Sprache sein Selbst
nennt, was ihm an Anlagen, Talenten usw. gegeben sein mag, jedoch mit der Richtung nach au-
ßen, wie es heißt, ins wirkliche, tätige Leben. Mit dem bißchen Reflexion, das er in sich hat, geht
er sehr vorsichtig um ... So gelingt es ihm, es nach und nach zu vergessen; im Laufe der Jahre
findet er es dann beinahe lächerlich. Er ist nun glücklich verheiratet, ein tätiger und unterneh-
mender Mann, Vater und Bürger. Daheim nennen ihn die Dienstboten »Er selbst«. Er ist lebens-
klug geworden, hat sich in die Zeit und in sein Schicksal gefügt.
Im Leben solcher Menschen gibt es wohl einen Augenblick, wo sie doch die Richtung nach
innen einschlagen. Sie kommen ungefähr bis zu den ersten Schwierigkeiten, da biegen sie ab.
Dann vergessen sie jene ihre beste Zeit, als wäre sie eine Kinderei gewesen. Diese Verzweiflung
ist die gewöhnlichste. Daher die allgemeine Ansicht, Verzweiflung sei etwas, was der Jugend an-
gehöre, aber nicht dem gesetzten Mann. Es ist aber eine Verkennung dessen, daß der Mensch
Geist und nicht bloß eine Tierart ist, wenn man meint, mit Glauben und Weisheit gehe es so
bequem, daß sie wirklich so ohne weiteres mit den Jahren kämen. Die Sache verhält sich viel-
mehr so, daß der Mensch im Geistigen mit den Jahren nicht so ohne weiteres zu etwas kommt.
Mit den Jahren verliert man vielleicht das bißchen Leidenschaft, Gefühl und Phantasie, das biß-
chen Innerlichkeit, das man hatte, und geht ohne weiteres auf die Trivialität ein, sich aufs Le-
ben zu verstehen. Entwickelt sich ein Mensch wirklich mit den Jahren, wird er im wesentlichen
Bewußtsein von seinem Selbst reif, so verzweifelt er vielleicht in einer höheren Form.
2. Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst:
War die vorige eine Verzweiflung der Schwachheit, so ist diese eine Verzweiflung über seine
Schwachheit. Der Verzweifelnde sieht selbst ein, daß es Schwachheit ist, sich das Irdische so zu
Herzen zu nehmen. Anstatt aber nun von der Verzweiflung weg zum Glauben abzubiegen und
sich in seiner Schwachheit vor Gott zu demütigen, vertieft er sich in die Verzweiflung und ver-
zweifelt über seine Schwachheit. Auch diese Verzweiflung gehört unter die Form, daß man
verzweifelt nicht man selbst sein will. Das Selbst will sich nicht selbst anerkennen. Es kann, ver-
zweifelt, diese Schwachheit nicht vergessen, es haßt sich gewissermaßen selbst, es will sich nicht
gläubig unter seine Schwachheit demütigen, um sich so selbst wiederzugewinnen, nein, es will
sozusagen nichts von sich hören und nichts von sich wissen. Jene blinde Tür, von der vorhin
die Rede war, hinter der sich nichts befand, ist hier eine wirkliche, aber freilich sorgfältig abge-
 
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