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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0484
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Psychologie der Weltanschauungen

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Will man diejenigen, »die im eminenten Sinne handeln (die doch nur erleben, was jedem
Menschen zu erleben verstattet ist: daß sie handeln) durch eine besondere Bemerkung auszeich-
nen, so kann man ganz wohl das Dämonische als Oberbegriff gebrauchen... Dämonisch ist jede
Individualität, die ohne Mittelbestimmung (daher die Verschlossenheit gegen alle anderen), al-
lein durch sich selbst in einem Verhältnis zur Idee steht. Ist die Idee Gott, so ist die Individuali-
tät religiös, ist die Idee das Böse, so ist sie dämonisch im engeren Sinne«1).581 »Das Dämonische
hat dieselbe Eigenschaft wie das Göttliche, daß nämlich der Einzelne in ein absolutes Verhält-
nis zu demselben treten kann«“).582 Nach Kierkegaard treten der Religiöse und der Dämoni-
sche aus dem Allgemeinen heraus, aber der Religiöse tritt als Einzelner in ein absolutes Verhält-
nis zu Gott, der Dämonische zu sich selbst. Nur den Menschen, soweit sein Handeln ganz im
Gebiete des Offenbaren liegt, kann ich verstehen. »Gehe ich weiter, so stoße ich beständig auf
das Paradox, auf das Göttliche und auf das Dämonische; denn Schweigen sind beide. Schwei-
gen ist die Hinterlist des Dämons, und je mehr geschwiegen wird, desto schrecklicher wird der
Dämon, aber Schweigen ist auch der Gottheit Zeugnis in dem Einzelnen«1“).583 Der Dämonische
und der Religiöse stehen beide außerhalb des Allgemeinen. Wer durch Anlage und Situation äu-
ßerlich außerhalb des Allgemeinen gestellt wird, ist prädisponiert, dämonisch oder religiös zu
werden. Das zeigt Kierkegaard an Richard III. Shakespeares, der, körperlich von Natur ent-
stellt, außerhalb des Allgemeinen gestellt, das Mitleid nicht ertragen kann: »Solche Naturen ste-
hen von Grund aus im Paradox, und sie sind keineswegs unvollkommener als alle anderen Men-
schen, nur daß sie entweder verloren gehen in dem dämonischen Paradox oder erlöst werden
in dem göttlichen... Ursprünglich durch natürliche oder geschichtliche Verhältnisse außerhalb
des Allgemeinen gestellt sein, das ist der Anfang des Dämonischen«1").584
Der Dämonische hat nach Kierkegaard also »Idealität«v),58s ist nicht im Reiche der Geistlo-
sigkeit (»es liegt in gewissem Sinne unendlich viel mehr Gutes in einem dämonischen als in
dem trivialen Menschen«'')).386 Der Dämonische existiert. In unserer Zeit der bloßen Spekula-
tion, bei der man über Betrachtung sich selbst vergißt, »wird ein Mensch, der bloß mit soviel
Energie wie ein mittelmäßiger griechischer Philosoph existiert, für dämonisch angesehen«"“).587
Wie Kierkegaard den trotzigen Willen zum eigenen zufälligen Selbst, den er dämonisch
nennt, schildert, haben wir nun zu sehen. In reinster | Form findet ihn Kierkegaard in der letz-
ten Gestalt des Verzweifelt-man-selbst-sein-wollens, an die wir anknüpfen:
»Je mehr Bewußtsein in einem solchen ist, desto mehr potenziert sich die Verzweiflung und
wird zum Dämonischen. Ein Selbst, das verzweifelt es selbst sein will, quält sich in irgendeiner
Pein, die sich nun einmal von seinem konkreten Selbst nicht wegnehmen oder trennen läßt.
Gerade auf diese Qual wirft der Betreffende nun seine ganze Leidenschaft, die zuletzt zu einem
dämonischen Rasen wird. Jetzt will er keine Hilfe. Einst hätte er gern alles hingegeben, um diese
Qual loszuwerden. Da ließ man ihn warten, nun ist es vorbei, nun will er lieber gegen alles ra-
sen, will der von der ganzen Welt, vom Dasein unrecht Behandelte sein ... Er selbst will er sein,

i IV, 2OÖff.
ii III, 90.
iii III, 8r.
iv III, 98.
v IV, 90.
vi III, 89.
vii VI, 328.

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