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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0494
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Psychologie der Weltanschauungen

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mystisch genannt wird. Es ist die Aufgabe, das Mystische, das zum Geiste als einem
Prozeß gehört, in seinen substantiellen Gestalten aufzusuchen. Dazu ist eine ganz all-
gemeinpsychologische Vergegenwärtigung nötig über mystisches Erleben, die inhalt-
lich möglichst banal sein soll, damit das Interesse ganz der Form des Psychologischen
zugewandt sei.
Das Mystische als Erlebnis und der Prozeß der Vergegenständlichung.
Unser bewußtes seelisches Dasein verläuft im allgemeinen so, daß wir immer als Sub-
jekte irgendwelche Gegenstände, Gedankeninhalte, Vorstellungen uns gegenüber ha-
ben, innerlich auf sie - betrachtend, meinend, fühlend, wünschend usw. - gerichtet
sind: wir leben gewöhnlich in Subjekt-Objekt-Spaltung. Man kann gelegentlich beim
Erwachen Zwischenzustände beobachten, von denen wir nachher deutlich im unmit-
telbaren Gedächtnis bemerken, daß etwas seelisch da war, ohne daß eine deutliche
Subjekt-Objekt-Spaltung bestand. Ein ganz einfaches, aber darum psychologisch lehr-
reiches Erlebnis solcher Art beschreibt Messer:609
»Ich übernachtete zum ersten Male in einer mir fremden Stadt, am nächsten Morgen fahre
ich aus dem Schlaf auf: mein Bewußtsein ist gewissermaßen ganz erfüllt von einer intensiven
Gehörsempfindung; sie wird eine zeitlang nicht lokalisiert, auch nicht gegenständlich gedeu-
tet; der >Verstand< steht sozusagen still; der Zustand ist unlustvoll, beängstigend. Freilich dau-
ert er vielleicht nur 2-3 Sekunden. Da taucht plötzlich die Erinnerung auf, daß ich am Abend
vorher ganz in der Nähe meiner Wohnung eine Bahnlinie bemerkt. Und nun erfolgt sofort die
objektive Deutung der Empfindung: es ist das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges.«610
Messer will mit diesem Beispiel belegen, wie es ausnahmsweise möglich ist, daß
Empfindungen, die sonst immer als Elemente von Wahrnehmungsinhalten vorkom-
men, auch als bloßes noch gar nicht gegenständlich gewordenes Material erlebt wer-
den können. Das wird durch den Kontrast des unklaren, bloß bewußtseinserfüllten
und des klaren, Subjekt-Objekt-gespaltenen Zustandes deutlich.
Jedesmal, wenn wir in unserem seelischen Erleben einen Gegenstand uns gegen-
über haben, können wir von dem Erlebnis den Ausdruck gebrauchen, daß ein »Sinn«
darin sei; im beschriebenen Falle: daß ein Eisenbahnzug vorbeifährt. Indem das ver-
möge mangelnder Vergegenständlichung unklare Erlebnis »gedeutet« wird, wird der
Gegenstand oder der Sinn vor den Erlebenden hingestellt. Da dieser Sinn in unserem
Falle recht gleichgültig war, nennen wir es banal. Gleichgültig war es zum Teil darum,
weil es restlos in der gegenständlichen Deutung zu einem bloßen sinnlichen Wahr-
nehmungsgegenstand aufging.
Nun ist zwar eine häufige Meinung, daß wir als Gegenstände, Inhalte vor unserem
Bewußtsein nur Sinnliches, nur greifbare, tastbare, sichtbare, hörbare Gegenstände
haben. Eine rein phänomenologische Vergegenwärtigung kann aber feststellen, daß
wir zwar solcher Inhalte in Wahrnehmung oder Vorstellung vielleicht immer als einer

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