Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0505
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
412

Psychologie der Weltanschauungen

antworten, da, soviel ich sehe, das Ganze nicht als Ganzes, sondern nur als Kombination
vorgestellt wird. Jedenfalls ist in beiden Polen etwas Substantielles. Sie sollen als solche
Substanzen charakterisiert und von den anschließenden Gestalten gesondert werden.

i. Die Mystik.
Im Zentrum der Mystik steht das Erlebnis, das - als Erlebnis - reale Vereinigung mit
dem Absoluten ist. Wird dies Erlebnis Ziel und Sinn des ganzen Daseins, nicht als blo-
454 ßes Erlebnis, sondern als | ein realer Vorgeschmack und als ein reales Vorwegnehmen
der ewigen Seligkeit schon im Diesseits, so entspringt daraus mit logischer wie psycho-
logischer Konsequenz eine bestimmte Art der Lebensgesinnung und Lebensführung.
Diese hat überall auf der Erde eine große Ähnlichkeit; in der mystischen Literatur geht
die Phänomenologie des spezifischen mystischen Erlebnisses mit den Regeln der Ge-
staltung des ganzen Lebens und der Darstellung individueller irrationaler Verhaltungs-
weisen vielfach zu einem Ganzen zusammen.
Der Typus dieser Lebensführung läßt sich formal etwa so schildern: Da das einzige
Ziel das mystische Erlebnis in größter Vollkommenheit ist, muß so gelebt werden, daß
dies Erlebnis am sichersten und häufigsten erreicht wird. Der ganze Mensch muß er-
griffen sein, jede Minute seines Daseins, alles muß in Beziehung zum letzten mysti-
schen Abgrund gesetzt werden. Da es aber nicht nur vom Individuum, sondern vom
Absoluten selbst (von der »Gnade Gottes«) abhängt, ob das Erlebnis realer Einheit mit
dem Absoluten eintritt, fühlt sich der Mystiker passiv in der Hand Gottes. Sein Leben
ist ein passives Erfahren der Wege Gottes. Alle Wege in die Welt ausgebreiteter Gegen-
ständlichkeit führen vom Mystischen ab und werden daher vom Mystischen, das ja di-
rekt ohne Umweg, mit einem Sprung ins Ganze und Absolute erreicht werden soll, ab-
gelehnt. Es wird abgelehnt das Denken zugunsten geistiger Armut (denn das Denken
fixiert, bestimmt, verendlicht); abgelehnt das Handeln (in dem ein Einzelnes, Endli-
ches ergriffen wird) zugunsten des Nichthandelns, des Geschehenlassens, des Nicht-
eingreifens; abgelehnt alle Gegensätzlichkeit, auch die von gut und böse, zugunsten
der übergreifenden Einheit. Das einzige Kriterium des Wertes ist dem Mystiker die re-
ale Gottesgemeinschaft, die in jedem Augenblick des Lebens als Intention, Gesinnung
und Stimmung, in der mystischen ekstatischen Vereinigung als jedesmal erneuerte Rea-
lität vorhanden ist. Nichthandeln und Unverantwortlichkeit ist ihm, wenn jene Reali-
tät nur da ist, selbstverständlich. Er hat ja nur zu erfahren, welche Wege Gott mit ihm
gehen will: Wenn der Mystiker sich, von Standpunkten aus der Subjekt-Objektspaltung
und des Diesseits gesehen, untreu wird, inkonsequent wird, so handelt es sich eben um
neue Wege Gottes. Die Welt gibt es für ihn, als etwas, das in Betracht käme, auf das es
ankäme, nicht mehr; sie mag zugrunde gehen, aus ihr mag werden was will, oder viel-
mehr was Gott will. Der Mystiker tut dazu nichts, denn er greift nicht ein. Dadurch
glaubt er im wesentlichen die größten Wirkungen auszuüben, selbst wenn er sich auf
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften