Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation
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sehung. Alle Grundgedanken des vernünftig nicht einsehbaren Glaubens können nur
in vernunftwidrigen Antinomien ausgesprochen werden; jede vernünftige Eindeutig-
keit der Glaubensinterpretation wird eine Häresie.14
In den neueren Jahrhunderten vollzog sich dagegen mit Descartes und allen, die
ihm folgten, eine radikale Begründung der Vernunft auf sich selbst allein, wenigs-
tens im philosophischen Erdenken des Seins, das der Einzelne für sich vollzieht. Wäh-
rend Descartes noch Gesellschaft, Staat und Kirche unangetastet ließ,15 entstand in
der Folge die Haltung der Aufklärung: Mit dem, was ich gültig denke, und was ich ♦
empirisch forschend erkenne, kann ich die richtige Welteinrichtung erreichen. Das
vernünftige Erkennen im Sinne von voraussetzungsloser Allgemeingültigkeit ist die
zureichende Grundlage des menschlichen Lebens überhaupt. Gegen diese Vernunft-
philosophie, ob sie nun als Rationalismus oder als Empirismus klassifiziert wird, ge-
schah von Anfang an der Gegenschlag durch Männer, die, selbst durchaus im Besitz
dieser Vernünftigkeit, zugleich deren Grenze und das Andere sahen, worauf es vor al-
ler Vernunft ankommt und was diese selbst erst ermöglicht und bindet. Gegen Des-
cartes steht Pascal; gegen Descartes, Hobbes, Grotius steht Vico; gegen Locke, Leibniz,
Spinoza steht Bayle.
Das Philosophieren des 17. und 18. Jahrhunderts scheint in dieser großen Antithese
sich zu vollziehen. Aber die Denker standen unversöhnbar, die Gedanken sich aus-
schließend einander gegenüber.
Es war im Unterschied von dieser Denkwelt der erstaun|liche Versuch der Philoso- 11
phen des deutschen Idealismus, die Versöhnung herbeizuführen, indem sie in der Ver-
nunft selbst mehr als Vernunft sahen. Über alle bisherigen Möglichkeiten hinausgrei- ♦
fend hat die deutsche Philosophie in ihrer großen Zeit einen Vernunftbegriff
entwickelt, der, historisch eigenständig, in Kant einen neuen Ausgang schuf, dann in
einen phantastischen Bau durch Hegel sich verlor, aber auch ihn selbst schon wieder
durchbrach in Fichte und Schelling.
Wir überblicken das Denken der Jahrtausende: Jederzeit scheint uns - wie auch im-
mer das der Vernunft Andere auftritt - doch dies Unvernünftige im Gange des ver-
nünftigen Begreifens entweder in Vernunft verwandelt, oder an seinem Ort als Grenze
anerkannt, aber dann in seiner Auswirkung durch Vernunft selbst aufgefangen
und begrenzt, oder als Quelle einer neuen besseren Vernünftigkeit erfahren und ent-
faltet.
Es ist, als ob im Grunde des Denkens dieser Zeiten noch in aller Unruhe die Ruhe
der nie im Ganzen und radikal in Frage gestellten Vernunft liege. Alles Seinsbewußt-
sein gründete sich zuletzt doch in der Vernunft oder in Gott. Alle Infragestellungen
sind noch umfangen von der fraglosen Selbstverständlichkeit; oder sie sind ganz in-
dividuelle, geschichtlich wirkungslose Durchbrüche, die ihr eigenes Selbstverständ-
nis nicht erreichten. Alle Gegenwirkungen gegen die Vernünftigkeit sind nur wie
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sehung. Alle Grundgedanken des vernünftig nicht einsehbaren Glaubens können nur
in vernunftwidrigen Antinomien ausgesprochen werden; jede vernünftige Eindeutig-
keit der Glaubensinterpretation wird eine Häresie.14
In den neueren Jahrhunderten vollzog sich dagegen mit Descartes und allen, die
ihm folgten, eine radikale Begründung der Vernunft auf sich selbst allein, wenigs-
tens im philosophischen Erdenken des Seins, das der Einzelne für sich vollzieht. Wäh-
rend Descartes noch Gesellschaft, Staat und Kirche unangetastet ließ,15 entstand in
der Folge die Haltung der Aufklärung: Mit dem, was ich gültig denke, und was ich ♦
empirisch forschend erkenne, kann ich die richtige Welteinrichtung erreichen. Das
vernünftige Erkennen im Sinne von voraussetzungsloser Allgemeingültigkeit ist die
zureichende Grundlage des menschlichen Lebens überhaupt. Gegen diese Vernunft-
philosophie, ob sie nun als Rationalismus oder als Empirismus klassifiziert wird, ge-
schah von Anfang an der Gegenschlag durch Männer, die, selbst durchaus im Besitz
dieser Vernünftigkeit, zugleich deren Grenze und das Andere sahen, worauf es vor al-
ler Vernunft ankommt und was diese selbst erst ermöglicht und bindet. Gegen Des-
cartes steht Pascal; gegen Descartes, Hobbes, Grotius steht Vico; gegen Locke, Leibniz,
Spinoza steht Bayle.
Das Philosophieren des 17. und 18. Jahrhunderts scheint in dieser großen Antithese
sich zu vollziehen. Aber die Denker standen unversöhnbar, die Gedanken sich aus-
schließend einander gegenüber.
Es war im Unterschied von dieser Denkwelt der erstaun|liche Versuch der Philoso- 11
phen des deutschen Idealismus, die Versöhnung herbeizuführen, indem sie in der Ver-
nunft selbst mehr als Vernunft sahen. Über alle bisherigen Möglichkeiten hinausgrei- ♦
fend hat die deutsche Philosophie in ihrer großen Zeit einen Vernunftbegriff
entwickelt, der, historisch eigenständig, in Kant einen neuen Ausgang schuf, dann in
einen phantastischen Bau durch Hegel sich verlor, aber auch ihn selbst schon wieder
durchbrach in Fichte und Schelling.
Wir überblicken das Denken der Jahrtausende: Jederzeit scheint uns - wie auch im-
mer das der Vernunft Andere auftritt - doch dies Unvernünftige im Gange des ver-
nünftigen Begreifens entweder in Vernunft verwandelt, oder an seinem Ort als Grenze
anerkannt, aber dann in seiner Auswirkung durch Vernunft selbst aufgefangen
und begrenzt, oder als Quelle einer neuen besseren Vernünftigkeit erfahren und ent-
faltet.
Es ist, als ob im Grunde des Denkens dieser Zeiten noch in aller Unruhe die Ruhe
der nie im Ganzen und radikal in Frage gestellten Vernunft liege. Alles Seinsbewußt-
sein gründete sich zuletzt doch in der Vernunft oder in Gott. Alle Infragestellungen
sind noch umfangen von der fraglosen Selbstverständlichkeit; oder sie sind ganz in-
dividuelle, geschichtlich wirkungslose Durchbrüche, die ihr eigenes Selbstverständ-
nis nicht erreichten. Alle Gegenwirkungen gegen die Vernünftigkeit sind nur wie