6
Vernunft und Existenz
Der Wissensmöglichkeiten bemächtigt sich der Wille. Ein Kampf entsteht für und
wider Vernunft. Dem Drang zur Ruhe des Begreiflichen in der reinen durchsichtigen
Vernunft steht gegenüber ein Drang, die Vernunft zu zerschlagen, sie nicht nur in ihre
Grenzen zu weisen, sondern zu knechten. Man will sich unterwerfen einem unbegrif-
fenen Übersinnlichen, das doch fordernd durch von Menschen gesprochene Sätze in
der Welt auftritt;8 oder man will sich unterwerfen dem natürlichen Sosein der Triebe
und Leidenschaften, der Unmittelbarkeit des nun einmal Gegenwärtigen. Aber diese
Weisen des Drängens sind im dazu gehörenden Philosophieren doch übersetzt in ein
Wissen vom Nichtvernünftigen: sich in das Unvernünftige, Widervernünftige, Über-
vernünftige zu stürzen, spricht sich als Wissen um es aus. Noch im radikalsten Trotz
gegen die Vernunft bleibt ein Minimum von Vernünftigkeit.
9 | Zu zeigen, wie die in sich vieldeutige Scheidung von Vernunft und Nichtvernunft
im Grunde jedes Denkens zur Erscheinung kommt, würde eine Darstellung der Philo-
sophiegeschichte aus einem in ihr ständig gegenwärtigen Prinzip erfordern. Wir erin-
nern an wenige herausgegriffene Punkte:
Den Griechen war dieses Seinsproblem schon mythisch gegenwärtig. Die Klarheit
der griechischen Götter hatte um sich als die Grenze ihres Wissens und Vermögens die
erhabene Unbegreiflichkeit der Moira.9
♦ Die meisten der Philosophen berühren beiläufig, aber in gewichtiger Weise, das ih-
rer Vernunft nicht Zugängliche:
Sokrates hörte, wenn er handeln wollte, die abratende Stimme des unbegriffenen
Daimonion.10
Plato kennt den Wahnsinn, der als Krankheit weniger ist als Vernunft, als gottge-
wirkt aber mehr: nur durch ihn kommen die Dichter, die Liebenden, die Philosophen
zum Schauen des Seins.11
Nach Aristoteles wird im Zusammenhang der menschlichen Dinge das Glückha-
ben zwar durch vernünftige Überlegung bewirkt, aber nicht nur: es tritt das Glück ge-
gen die Berechnung und ohne sie ein. Für Aristoteles gibt es Menschen, die ein Prin-
zip haben, das besser ist als überlegende Vernunft; sie sind Alogoi: ihr Unternehmen
scheint ihnen ohne und wider die Vernunft zu geraten.12
Diese Beispiele stehen neben der allgemeinen Form griechischen Denkens, das dem
Sein den Schein entgegensetzt (Parmenides), dem Seienden das Leere (Demokrit), dem
eigentlichen Sein das Nichtsein (Plato), der Form die Materie (Aristoteles).13
Auf dem Boden des Christentums entwickelt sich der Gegensatz von Vernunft und
Nichtvernunft als Gegensatz von Vernunft und Glaube im Inneren des einzelnen Men-
zo sehen: das der Vernunft nicht Zugängliche wird nicht | mehr nur als das Andere be-
trachtet, sondern es ist selbst die Offenbarkeit des Höheren. Im Betrachten der Welt
gilt das Unvernünftige nicht mehr als dummer Zufall oder blinde Unordnung, oder
als wunderliches, die Vernunft übertreffendes Prinzip, sondern allumgreifend als Vor-
Vernunft und Existenz
Der Wissensmöglichkeiten bemächtigt sich der Wille. Ein Kampf entsteht für und
wider Vernunft. Dem Drang zur Ruhe des Begreiflichen in der reinen durchsichtigen
Vernunft steht gegenüber ein Drang, die Vernunft zu zerschlagen, sie nicht nur in ihre
Grenzen zu weisen, sondern zu knechten. Man will sich unterwerfen einem unbegrif-
fenen Übersinnlichen, das doch fordernd durch von Menschen gesprochene Sätze in
der Welt auftritt;8 oder man will sich unterwerfen dem natürlichen Sosein der Triebe
und Leidenschaften, der Unmittelbarkeit des nun einmal Gegenwärtigen. Aber diese
Weisen des Drängens sind im dazu gehörenden Philosophieren doch übersetzt in ein
Wissen vom Nichtvernünftigen: sich in das Unvernünftige, Widervernünftige, Über-
vernünftige zu stürzen, spricht sich als Wissen um es aus. Noch im radikalsten Trotz
gegen die Vernunft bleibt ein Minimum von Vernünftigkeit.
9 | Zu zeigen, wie die in sich vieldeutige Scheidung von Vernunft und Nichtvernunft
im Grunde jedes Denkens zur Erscheinung kommt, würde eine Darstellung der Philo-
sophiegeschichte aus einem in ihr ständig gegenwärtigen Prinzip erfordern. Wir erin-
nern an wenige herausgegriffene Punkte:
Den Griechen war dieses Seinsproblem schon mythisch gegenwärtig. Die Klarheit
der griechischen Götter hatte um sich als die Grenze ihres Wissens und Vermögens die
erhabene Unbegreiflichkeit der Moira.9
♦ Die meisten der Philosophen berühren beiläufig, aber in gewichtiger Weise, das ih-
rer Vernunft nicht Zugängliche:
Sokrates hörte, wenn er handeln wollte, die abratende Stimme des unbegriffenen
Daimonion.10
Plato kennt den Wahnsinn, der als Krankheit weniger ist als Vernunft, als gottge-
wirkt aber mehr: nur durch ihn kommen die Dichter, die Liebenden, die Philosophen
zum Schauen des Seins.11
Nach Aristoteles wird im Zusammenhang der menschlichen Dinge das Glückha-
ben zwar durch vernünftige Überlegung bewirkt, aber nicht nur: es tritt das Glück ge-
gen die Berechnung und ohne sie ein. Für Aristoteles gibt es Menschen, die ein Prin-
zip haben, das besser ist als überlegende Vernunft; sie sind Alogoi: ihr Unternehmen
scheint ihnen ohne und wider die Vernunft zu geraten.12
Diese Beispiele stehen neben der allgemeinen Form griechischen Denkens, das dem
Sein den Schein entgegensetzt (Parmenides), dem Seienden das Leere (Demokrit), dem
eigentlichen Sein das Nichtsein (Plato), der Form die Materie (Aristoteles).13
Auf dem Boden des Christentums entwickelt sich der Gegensatz von Vernunft und
Nichtvernunft als Gegensatz von Vernunft und Glaube im Inneren des einzelnen Men-
zo sehen: das der Vernunft nicht Zugängliche wird nicht | mehr nur als das Andere be-
trachtet, sondern es ist selbst die Offenbarkeit des Höheren. Im Betrachten der Welt
gilt das Unvernünftige nicht mehr als dummer Zufall oder blinde Unordnung, oder
als wunderliches, die Vernunft übertreffendes Prinzip, sondern allumgreifend als Vor-