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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0180
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III. Wahrheit

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Wahrheit - das Wort hat einen unvergleichlichen Zauber. Es scheint zu versprechen,
worauf es uns eigentlich ankommt. Verletzung der Wahrheit vergiftet alles, was durch
diese Verletzung erworben wird.
Wahrheit kann Schmerz bewirken, kann zur Verzweiflung bringen. Aber sie vermag
- allein durch das Wahrsein, unabhängig vom Inhalt - tief zu befriedigen: daß es doch
Wahrheit gibt.
Wahrheit ermutigt: habe ich sie irgendwo begriffen, so wächst der Antrieb, ihr un-
aufhaltsam nachzugehen.
Wahrheit gibt Halt: hier ist ein Unzerstörbares, dem Sein Verbundenes.
Aber was Wahrheit, dieses uns mächtig Anziehende, sei - nicht die jeweils be-
stimmte Wahrheit, sondern das Wahrsein als solches - das ist die Frage.
Wahrheit gibt es doch - so denken wir, als ob es selbstverständlich sei. Wir hören und
sprechen Wahrheiten über die Dinge, Ereignisse, Wirklichkeiten, die uns fraglos sind.
Wir haben sogar das Vertrauen, die Wahrheit werde sich in der Welt schon durchsetzen.
Aber wir stutzen: Von einer verläßlichen Gegenwart des Wahren ist wenig zu be-
merken. Zum Beispiel sind die geläufigen Meinungen zumeist Ausdruck des Bedürf-
nisses nach einem Halt: man will viel lieber ein Festes, um sich weiteren Denkens zu
überheben, als die Gefahr und die Mühe unablässigen Weiterdenkens. Was gesagt wird,
| ist ferner zumeist ungenau und in der Scheinklarheit vor allem der Ausdruck ver-
schleierter Daseinsinteressen. In der Öffentlichkeit ist zwischen Menschen so wenig
auf das Wahre Verlaß, daß vielmehr der Advokat nicht zu entbehren ist, um eine Wahr-
heit durchzusetzen. Der Anspruch auf Wahrheit wird zu einem Kampfmittel auch des
Unwahren. Über das Sichdurchsetzen der Wahrheit scheinen günstige Zufälle zu ent-
scheiden, nicht das Wahrsein als solches. Und am Ende kommt für Alles das Unge-
ahnte, dem es erliegt.
Alle solche Beispiele mangelnder Wahrheit in psychologischen und soziologischen
Tatbeständen brauchen das Wahrsein als solches nicht anzugehen, wenn das Wahr-
sein in sich selbst besteht und von seiner Verwirklichung zu trennen ist. Jedoch auch
der Bestand eines Wahrseins an sich kann zweifelhaft werden. Die Erfahrung der Un-
möglichkeit einer Einigung über das Wahre - trotz rücksichtslosen Klarheitswillens
und offener Bereitschaft - grade da, wo der Inhalt dieser Wahrheit uns so wesentlich
ist, daß Alles an ihm zu liegen scheint, weil er der Grund unseres Glaubens ist, kann

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