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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0181
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Existenzphilosophie

der Anlaß werden, am Wahrsein in dem geläufigen Sinne eines Bestehenden zu zwei-
feln. Das Wahre, auf das es ankommt, könnte seiner Natur nach der Eindeutigkeit und
Einmütigkeit der Aussage sich entziehen.
Unbezweifelte und lebenbeherrschende Wahrheit erweist sich Anderen als falsch.
Wir hören in unserer abendländischen Welt die aufeinander treffenden Behauptun-
gen aus wesensverschiedenen Ursprüngen und den betäubenden Lärm, der in ihren
Explosionen zu Massenerscheinungen durch die Jahrhunderte geht.
Angesichts dieser Wirklichkeit neigt man zu dem Satz: es gibt keine Wahrheit. Man
läßt Wahrheit nicht in sich bestehen; man leitet sie von etwas Anderem ab, unter des-
sen Bedingung Wahrheit allein Wahrheit sei.
28 | Daher geht durch die Geschichte des Denkens das Hin und Her: Erst das Behaup-
ten absoluter Wahrheit, dann der Zweifel an allem Wahrsein, neben beiden die sophis-
tisch beliebige Nutzung von Scheinwahrheit.
Die Frage nach dem Wahrsein ist eine der schwindlig machenden Fragen des Phi-
losophierens, mit deren Erdenken jener bezaubernde Glanz der Wahrheit sich verdun-
kelt.
Angesichts der Verwirrung meinen wir schnell einen sicheren Boden zu haben: wir er-
greifen die eindeutige Wahrheit in der Geltung von Aussagen, die durch gegebene An-
schauung und logische Evidenz begründet sind. Gegen alles zweifelnde Spintisieren
finden wir doch die Gegenstände der methodisch gereinigten Wissenschaften. Wir er-
fahren durch unseren Verstand die zwingende Einsehbarkeit und dem entsprechend
auch die tatsächlich allgemeine Zustimmung zu ihren Ergebnissen durch jedes sie be-
greifende Verstandeswesen. Es gibt ein zwar enges, aber unbestimmt begrenztes Reich
gültiger Wahrheit, dieses Reich bestehender Richtigkeiten für das Bewußtsein über-
haupt.
Die hochentwickelte Einsicht in die logischen Zusammenhänge des Sinns von Aus-
sagen - ein Feld wissenschaftlicher Forschung, und zwar um so entschiedener, je mehr
es (in der Logistik245) mathematisiert wird - sieht doch immer die logische Stringenz
enden an der Sache selbst. Die Wahrheit liegt in dem, was für diese logische Analyse
jeweils in den Voraussetzungen steckt; Wahrheit ist wesentlich erst durch deren Inhalt.
Dieser Inhalt ist nun entweder empirisch - evident als Wahrnehmbarkeit, Meßbar-
keit usw. - auch dann ist er logisch das nur Hinzunehmende. Oder der Inhalt ist gar-
nicht von dieser zwingenden Kraft des Sichaufdrängens für jedermann, sondern er-
29 wachsen aus wesensverschie | denen Ursprüngen, denen die unbedingten Gehalte
entspringen, die ein Leben - aber nicht jedes Leben gleicherweise - tragen und dann
auch in Aussagen sich mitteilen.
Wenn das »Bewußtsein überhaupt«, dieser Raum der Wissenschaften, zugleich der
Raum allen Hellwerdens in der Aussagbarkeit für uns ist, so ist doch dessen zwingende
 
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