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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0121
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6o

Vernunft und Existenz

Aber dieser aus möglicher Existenz durch Vernunft in den drei Weisen des Umgrei-
fenden sich verwirklichende Kommunikationswille kommt selbst nicht zur Vollen-
dung. Denn er ist ständig gebunden in die drei Weisen des Umgreifenden und in der
jeweiligen Weise, obzwar erweckt und bewegt, doch auch gleichsam getrübt; und er
findet sich schließlich begrenzt durch die Geschichtlichkeit der eigenen wie jeder an-
deren Existenz, die die Kommunikation ebenso in ihre Tiefe bringt wie vor der Viel-
fachheit der Wahrheit als Kommunikation auch scheitern läßt.
Aus dieser Situation der Existenz in der Zeit folgt erstens, daß, wenn Wahrheit an
Kommunikation gebunden ist, die Wahrheit selbst nur werdend sein kann, daß sie in ihrer
Tiefe nicht dogmatisch, sondern kommunikativ ist. Aus dem Bewußtsein der werden-
den Wahrheit entspringt dann erst die Möglichkeit einer radikalen Offenheit des Kom-
munikationswillens in der Wirklichkeit, ohne doch je sich vollenden zu können außer
im geschichtlichen Augenblick, der gerade als solcher wieder inkommunikabel wird.
Es folgt zweitens im Scheitern vor der Vielfachheit der Wahrheit das Sichaufraffen des
grenzenlosen Kommunikationswillens in einer Haltung, die ebenso entschieden das
♦ Nichtgelingen im Ganzen sieht, wie trotzdem an ihrem Wege festhält, nicht wissend,
wohin er führt.
92 | Es folgt drittens, daß, wenn die Wahrheit in der Kommunikation nicht174 als end-
gültige errungen und befestigt werden kann, Wahrheit wie Kommunikation sich vor der
Transzendenz, ihr Werden vor dem Sein, gleichsam verschwinden sehen, daß ihre entschei-
dende Verwirklichung auch die tiefste Offenheit für diese Transzendenz hervorbringt.
Es ist die Frage, inwiefern die totale Kommunikation selbst die Wirklichkeit der Wahrheit,
unsere Wahrheit in der Zeit ist. Diese Frage wird deutlich durch Vergegenwärtigung ei-
nes zweifachen Sinnes von Wahrheit in der Zeit:
Wenn das, was die Wahrheit sei, geschichtlich endgültig - in Gegenstand, Symbol
und Aussage - erfaßt schien, dann blieb nur noch die Frage, wie diese gewonnene und
nun vorhandene Wahrheit allen Menschen zu vermitteln sei. Diese Wahrheit war in
sich geschlossen, selber zeitlos in der Zeit, daher für sich vollkommen, nicht abhän-
gig von den Menschen; aber die Menschen galten als abhängig von ihr. Jedesmal be-
gann dann von Mensch zu Mensch die Mitteilung, welche nicht ein gegenseitiges Sich-
hervorbringen, sondern ein Geben der im Besitz der Wahrheit Seienden an die ihrer
noch nicht Teilhaftigen bedeutete. Damit begann jedoch der Prozeß der Verwandlung
dieser Wahrheit. Denn die sie aufnahmen, verstanden sie von sich aus; es war in der
Tat kein Hinnehmen. Die Wahrheit, statt, in ihrer Ursprünglichkeit sich gleichblei-
♦ bend, Menschen vermittelt zu werden, geriet in Verwässerungund in Verkehrung, oder
in die Verwandlung zu etwas ganz Anderem aus neuer Ursprünglichkeit; ihre Verbrei-
tung unter Menschen in solchen Gestalten geschah bis zu Grenzen, an denen dann
ihre weitere Verbreitung faktisch gelähmt war.
 
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