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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0140
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Vorrang und Grenzen vernünftigen Denkens

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|Wie mit der Persönlichkeit ging es mit allen substantiellen Gehalten. Man kann 122
aus ihnen wollen, sie indirekt wecken, an ihrem Maßstab sein Dasein ständig formen,
aber man kann sie nicht wollen. Ist der Mythus vergangen, stellt kein Wille ihn her;
dieser kann nur Ersatzbildungen schaffen. Meint man, es sei eine neue Religion nö-
tig, so kann man sie nicht machen; jeder Versuch führt zu einer ohnmächtigen Un- ♦
echtheit. Wenn ich nicht liebe, so kann ich mich zu keiner Liebe zwingen, sie nicht
arrangieren und durch Veranstaltungen herbeiführen. Glaube ich nicht, so ist es aus-
sichtslos, glauben zu wollen: ich könnte dadurch nur Unwahrhaftigkeit und Verwir-
rung in mir und meiner Welt bewirken.
Das Ergebnis dieser Umkehrungen kann überall im Ende nur die Ratlosigkeit auch ♦
des Verstandes selbst sein, der sich isoliert hatte, alles meinte wissen und willentlich
herstellen zu können.
Was wir an Beispielen erörterten, sollte zeigen, in welchem Sinne man vom Vorrang
des Denkens reden muß.
Das Wesen des Denkens und Wissens wird gemeinhin zu eng genommen im Sinne
eines mechanistisch denkenden, im Unterscheiden, Definieren und Ordnen sich er-
schöpfenden Verstandes.
Daher ist die durch halbes und enges und sich formalisierendes Denken entste-
hende Erfahrung ein Grund der Verwirrung durch Denken, aus der die Neigung, das
Denken als lebenstörend zu verwerfen, entsteht.♦
Aber auch noch, wenn ich das Denken in dem weiteren Sinne jedes gegenständli-
chen, z.B. des objektivierten dialektischen Denkens nehme, gilt die Denkerfahrung:
Was ich weiß, zeigt sich als Gewußtes schon faktisch für mich relativiert, weil in Mög-
lichkeit verwandelt und der Infragestellung ausgesetzt. Daher scheint es, daß ich nicht
un|bedingt sein und dieses zugleich wissen kann. So drängt sich die Frage auf, ob wir un- 123
serem Grunde treu bleiben können, wenn wir in grenzenlosem Horizont wissen.
In der Tat bleiben wir dem Grunde treu, dem Sein verbunden nur dadurch, daß wir
das Äußerste an Wißbarkeit wagen - denn nur dadurch kommt der Grund zur Entfal-
tung, wird das Sein offenbar; aber wir bleiben ihm treu auch nur dann, wenn wir uns
nicht der Form der Sprache und des äußerlich Denkbaren überlassen, uns nicht sach-
los und gehaltlos zu denken erlauben. Dieses wiederum verlangt eine ständige Bin-
dung und Kontrolle durch das Denken selbst: wir bleiben nur dann wahr, wenn wir
mit dem Bewußtsein der Weisen des Wissens und ihrer Grenzen erst eigentlich recht
wissen. Denn was immer mitteilbar wird - und ohne eine Weise der Mitteilbarkeit
keine Wahrheit - gehört in mannigfachen Stufen den verschiedenen Weisen des Um- ♦
greifenden und ihrer Bezogenheit aufeinander an und hat seinen Sinn jeweils in sei-
ner Sphäre, nicht darüber hinaus.
 
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