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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0167
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io6

Existenzphilosophie

alle entscheidende Kritik. Diese Kritik zerstörte die Täuschungen, um das wirklich
Wißbare um so reiner zu ergreifen.
So gab es die großen wissenschaftlichen Ereignisse, die alle Dogmatik durchbrachen.
Im Anfang des Jahrhunderts begann mit der Entdeckung der Radioaktivität und den
Anfängen der Quantentheorie zugleich die gedankliche Relativierung des erstarrten
Gehäuses der mechanischen Naturerkenntnis. Es begann der bis heute fortdauernde
6 Aufbau entdeckender Gedanken, die nicht mehr in die | Enge eines an sich seienden
und gewußten Naturseins sich verfingen. Die frühere Alternative, daß man entweder
die Wirklichkeit der Natur an sich zu erkennen meinte oder mit bloßen Fiktionen zu
operieren glaubte, um die Naturphänomene auf das kürzeste zu beschreiben,228 wurde
hinfällig: im Durchbrechen jeder Absolutheit war man doch grade bei der erforschba-
ren Wirklichkeit.
In den einzelnen Wissenschaften geschah mit geringerer Großartigkeit überall das
Analoge: Es wurde jede absolute Voraussetzung hinfällig. So wurde z.B. in der Psychia-
trie das Dogma des 19.Jahrhunderts: »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten«229
in Frage gestellt. Die Ausbreitung des faktischen Wissens an Stelle einer fast mytholo-
gischen Konstruktion der Geistesstörungen durch gar nicht gekannte Gehirnverände-
rungen vollzog sich gerade unter Preisgabe des einengenden Dogmas. Die Forschung
ging darauf aus, zu erkennen, wie weit Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind und
lernte, sich eines vorwegnehmenden Generalurteils zu enthalten: Der Mensch war
nicht eingefangen, während man die realistischen Erkenntnisse vom Menschen außer-
ordentlich erweiterte.
Es gab die großen, verehrungswürdigen Forschergestalten, die ebenso unerbittlich
in der Selbstkritik wie fruchtbar in ihren Entdeckungen waren.
Max Weber enthüllte den Irrtum, daß durch Wissenschaft - etwa in der Volks-
wirtschaftslehre und Soziologie - herauszubekommen und zu beweisen sei, was ge-
tan werden solle.230 Die methodische Wissenschaft erkennt Tatsachen und Möglich-
keiten. Sollen diese objektiv gültig erkannt werden, so muß der forschende Mensch
seine Wertungen, insbesondere seine Wünsche, seine Sympathien und Antipathien,
die, auf dem Wege zum Erkennen, fruchtbare Antriebe geben und den Blick hell-
sichtig machen, im Erkenntnisakt selbst suspendieren, um die Verschleierungen
und Einseitigkeiten, die aus ihnen kommen, wieder rückgängig zu machen. Wissen-
7 schaft ist nur | redlich als wertfreie Wissenschaft. Aber diese wertfreie Wissenschaft
ist, wie Max Weber zeigte, ihrerseits in der Auswahl der Probleme und Gegenstände
noch im ganzen gelenkt durch Wertungen, die sie zugleich durchschauen kann.
Die Leidenschaft der Wertung - die für das Leben den Vorrang hat und auch erst be-
gründet, daß Wissenschaft überhaupt sein soll - und die Selbstüberwindung durch
Suspension der Wertungen beim Erkennen machen zusammen erst die Kraft des For-
schens aus.
 
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