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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0166
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Einführung

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immer noch erziehend wirkte, die aber doch im Grunde zu harmlos war, zu anspruchs-
los, zu wirklichkeitsblind. Der Drang zur Wirklichkeit verwarf nichtssagende, in aller
Systematik doch wie eine Spielerei wirkende Begrifflichkeiten, verwarf Beweise, die
trotz großen Aufwandes doch nichts bewiesen. Mancher folgte dem Fingerzeig, der in
der verborgenen Selbstverurteilung dieser Philosophie lag, die sich am Rang der Erfah-
rungswissenschaften maß: er suchte die Erfahrungswissenschaften selbst; er gab diese
Philosophie preis, vielleicht an eine andere glaubend, die er noch nicht kannte.
Welcher Enthusiasmus ergriff damals den Studenten, der nach einigen Semestern
Philosophie in die Naturwissenschaften, in die Geschichte und in die andern for-
schenden Wissenschaften ging! Hier gab es Wirklichkeiten. Hier gab es eine Befriedi-
gung des Wissenwollens: welche überraschenden, erschreckenden und wieder Hoff-
nung erweckenden Tatsachen der Natur, des menschlichen Daseins, der Gesellschaft,
des geschichtlichen Geschehens! Noch galt, was Liebig 1840 von dem Philosophie-
studium geschrieben hatte: »Auch ich habe diese an Worten und Ideen so reiche, an
wahrem Wissen und gediegenen Studien so arme Periode durchlebt, sie hat mich um
zwei kostbare Jahre meines Lebens gebracht«.227
Wurden aber die Wissenschaften ergriffen, als ob in ihnen schon die wahre Philo-
sophie läge, sollten sie also geben, was man in der Philosophie vergeblich gesucht
hatte, dann waren typische Irrungen möglich: man wollte eine Wissenschaft, die sagt,
was die Ziele des Lebens seien, eine wertende Wissenschaft; man leitete aus der Wis-
senschaft das richtige Handeln ab; man gab vor, durch Wissenschaft zu wissen, was in
der Tat ein Glaubensinhalt - jedoch in|bezug auf weltimmanente Dinge - war. Oder 5
umgekehrt, man verzweifelte an der Wissenschaft, weil sie nicht gab, worauf es für das
Leben ankam, mehr noch, weil die wissenschaftliche Reflexion das Leben lähme. So
schwankte die Haltung zwischen einem Wissenschaftsaberglauben, der vermeintliche
Resultate zum absoluten Ausgangspunkt macht, und einer Wissenschaftsfeindschaft,
welche die Wissenschaft als sinnlos verneint und als zerstörend bekämpft. Doch diese
Verirrungen gingen nur nebenher. In der Tat entstanden in den Wissenschaften selbst
die Kräfte, die ihrer Herr wurden dadurch, daß das Wissen als Wissen sich reinigte.
Denn wenn in den Wissenschaften allzuviel behauptet wurde, wofür der Beweis
fehlte, allzugewiß die umfassenden Theorien als ein absolutes Wirklichkeitswissen vor-
getragen wurden, allzuviel unbefragte Selbstverständlichkeiten in Geltung waren,
z.B. die Grundvorstellung von dem Mechanismus der Natur, die vielen vorwegneh-
menden Thesen, wie etwa die Lehre von der erkennbaren Notwendigkeit des histo-
rischen Geschehens usw., so war auf solche Weise zwar die verlassene schlechte Phi-
losophie in noch schlechterer Gestalt innerhalb der Wissenschaften wieder da, aber
- und das war das Großartige und neu Beflügelnde - es gab und wirkte doch in der
Wissenschaft selbst die Kritik, und zwar nicht das nie zur Einigung führende Kreisen
philosophischer Polemik, sondern die wirksame, Schritt für Schritt die Wahrheit für
 
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