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Existenzphilosophie
Diesen Wirklichkeitsverlust bei scheinbar gesteigertem Realismus des Zeitalters -
aus dessen Bewußtwerden die Not der Seele und das Philosophieren erwuchs - fassen
wir in seiner Gesamtheit nicht ins Auge; wir versuchen statt dessen an unserem Verhält-
nis zu den Wissenschaften, - einem für unser Thema inhaltlich wesentlichen Beispiel -
den verschlungenen Weg dieser in vielen Gestalten erfolgenden Rückkehr zur Wirk-
lichkeit in historischer Erinnerung zu vergegenwärtigen.
Um die Jahrhundertwende begriff sich Philosophie zumeist als eine Wissenschaft ne-
ben anderen. Sie war ein Universitätsfach, wurde von der Jugend als eine Bildungs-
möglichkeit berührt: glänzende Vorlesungen gaben Panoramen ihrer Geschichte,
der Lehrstücke, der Probleme, der Systeme. Unbestimmte Gefühle einer freilich oft
3 in|haltlosen (weil im faktischen Leben kaum wirksamen) Freiheit und Wahrheit ver-
banden sich mit dem Glauben an den Fortschritt der philosophischen Erkenntnis. Der
Denker »ging weiter« und war überzeugt, jeweils auf dem Gipfel der bis dahin erreich-
ten Erkenntnis zu stehen.
Diese Philosophie schien jedoch kein Vertrauen zu sich selbst zu haben. Der gren-
zenlose Respekt des Zeitalters vor den exakten Erfahrungswissenschaften ließ diese
zum Vorbild werden. Philosophie wollte vor dem Richterstuhl der Wissenschaften die
verlorene Achtung durch eine gleiche Exaktheit wiedergewinnen. Alle Gegenstände
der Forschung waren zwar an die besonderen Wissenschaften verteilt. Aber Philoso-
phie wollte sich neben ihnen eine Berechtigung geben dadurch, daß sie das Ganze zum
wissenschaftlichen Gegenstand machte, so das Ganze des Erkennens durch Erkennt-
nistheorie225 (die Tatsache der Wissenschaft überhaupt war ja kein Gegenstand einer
einzelnen Wissenschaft), das Ganze des Weltalls durch eine Metaphysik, die nach Ana-
logie naturwissenschaftlicher Theorien mit deren Hilfe erdacht wurde, das Ganze der
menschlichen Ideale durch eine Lehre von den allgemeingültigen Werten. Das schie-
nen Gegenstände, die keiner besonderen Wissenschaft angehörten, und die doch ei-
ner Erforschbarkeit mit wissenschaftlicher Methode zugänglich sein sollten. Jedoch
wirkte die Grundhaltung in all diesem Denken zweideutig. Denn sie war zugleich wis-
senschaftlich-objektiv und sittlich-fordernd. Sie konnte meinen, zwischen den »Be-
dürfnissen des Gemüts« und den »Ergebnissen der Wissenschaft« eine harmonische
Eintracht herzustellen.226 Sie konnte schließlich sagen, nur die möglichen Weltan-
schauungen und Werte objektiv begreifen zu wollen, aber dann auch wieder den An-
spruch erheben, die eine wahre Weltanschauung, nämlich die wissenschaftliche Welt-
anschauung, zu geben.
Die Jugend mußte damals eine tiefe Enttäuschung befallen: das war nicht, was sie
4 sich unter Philosophie ge|dacht hatte. Die Liebe zu einer lebenbegründenden Philo-
sophie verwarf diese wissenschaftliche Philosophie, die zwar in ihren methodischen
Anstrengungen und ihren Forderungen an mühevolles Denken imponierte und damit
Existenzphilosophie
Diesen Wirklichkeitsverlust bei scheinbar gesteigertem Realismus des Zeitalters -
aus dessen Bewußtwerden die Not der Seele und das Philosophieren erwuchs - fassen
wir in seiner Gesamtheit nicht ins Auge; wir versuchen statt dessen an unserem Verhält-
nis zu den Wissenschaften, - einem für unser Thema inhaltlich wesentlichen Beispiel -
den verschlungenen Weg dieser in vielen Gestalten erfolgenden Rückkehr zur Wirk-
lichkeit in historischer Erinnerung zu vergegenwärtigen.
Um die Jahrhundertwende begriff sich Philosophie zumeist als eine Wissenschaft ne-
ben anderen. Sie war ein Universitätsfach, wurde von der Jugend als eine Bildungs-
möglichkeit berührt: glänzende Vorlesungen gaben Panoramen ihrer Geschichte,
der Lehrstücke, der Probleme, der Systeme. Unbestimmte Gefühle einer freilich oft
3 in|haltlosen (weil im faktischen Leben kaum wirksamen) Freiheit und Wahrheit ver-
banden sich mit dem Glauben an den Fortschritt der philosophischen Erkenntnis. Der
Denker »ging weiter« und war überzeugt, jeweils auf dem Gipfel der bis dahin erreich-
ten Erkenntnis zu stehen.
Diese Philosophie schien jedoch kein Vertrauen zu sich selbst zu haben. Der gren-
zenlose Respekt des Zeitalters vor den exakten Erfahrungswissenschaften ließ diese
zum Vorbild werden. Philosophie wollte vor dem Richterstuhl der Wissenschaften die
verlorene Achtung durch eine gleiche Exaktheit wiedergewinnen. Alle Gegenstände
der Forschung waren zwar an die besonderen Wissenschaften verteilt. Aber Philoso-
phie wollte sich neben ihnen eine Berechtigung geben dadurch, daß sie das Ganze zum
wissenschaftlichen Gegenstand machte, so das Ganze des Erkennens durch Erkennt-
nistheorie225 (die Tatsache der Wissenschaft überhaupt war ja kein Gegenstand einer
einzelnen Wissenschaft), das Ganze des Weltalls durch eine Metaphysik, die nach Ana-
logie naturwissenschaftlicher Theorien mit deren Hilfe erdacht wurde, das Ganze der
menschlichen Ideale durch eine Lehre von den allgemeingültigen Werten. Das schie-
nen Gegenstände, die keiner besonderen Wissenschaft angehörten, und die doch ei-
ner Erforschbarkeit mit wissenschaftlicher Methode zugänglich sein sollten. Jedoch
wirkte die Grundhaltung in all diesem Denken zweideutig. Denn sie war zugleich wis-
senschaftlich-objektiv und sittlich-fordernd. Sie konnte meinen, zwischen den »Be-
dürfnissen des Gemüts« und den »Ergebnissen der Wissenschaft« eine harmonische
Eintracht herzustellen.226 Sie konnte schließlich sagen, nur die möglichen Weltan-
schauungen und Werte objektiv begreifen zu wollen, aber dann auch wieder den An-
spruch erheben, die eine wahre Weltanschauung, nämlich die wissenschaftliche Welt-
anschauung, zu geben.
Die Jugend mußte damals eine tiefe Enttäuschung befallen: das war nicht, was sie
4 sich unter Philosophie ge|dacht hatte. Die Liebe zu einer lebenbegründenden Philo-
sophie verwarf diese wissenschaftliche Philosophie, die zwar in ihren methodischen
Anstrengungen und ihren Forderungen an mühevolles Denken imponierte und damit