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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0179
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Existenzphilosophie

118
24 | Aber wenn wir als endliches Zeitdasein in Verschleierungen bleiben, wenn wir uns
für den Augenblick unruhig begnügen müssen im Vorläufigen, - in uns ist doch eine
verborgene, in hohen Augenblicken fühlbar werdende Tiefe, etwas, das, alle Weisen
des Umgreifenden durchdringend, grade durch sie uns gewiß werden kann: Schelling
nennt es unsere »Mitwissenschaft mit der Schöpfung«243 - als ob wir in unserem
Grunde dabei gewesen seien beim Ursprung aller Dinge und dies uns verschwunden
wäre in der Enge unserer Welt. Im Philosophieren sind wir auf dem Wege, die Erinne-
rung zu wecken, durch die wir zurückkehren zum Grunde. Die Vergegenwärtigung des
Umgreifenden ist der erste, noch negative Schritt zum Durchbrechen der Enge. -
Doch damit ist nur abstrakt in eine Weite und Tiefe gewiesen. Bleibt sie etwa leer oder
kommt in ihr uns das Sein wirklich entgegen? Das Bewußtsein der Weite gibt als sol-
ches noch keine Erfüllung sondern nur den Antrieb. Nach dem Durchbruch in den
Raum des Umgreifenden ist daher die doppelte Möglichkeit:
Entweder sinke ich in die Bodenlosigkeit des Unendlichen: ich stehe im Nichts, an-
gesichts dessen ich durch mich selbst allein bin, was ich sein kann. Wirkt dieser Gedanke
nicht auf mein sich so fragwürdiges Wesen verflüchtigend, so daß ich am Ende alles
Seinsbewußtsein verliere, dann wirkt er fanatisierend, um mich in einem gewaltsam
Ergriffenen, partikular Bestimmten - blind vor dem Umgreifenden, angesichts des
Nichts - zu retten.
Oder das Innewerden der Weite erzeugt die grenzenlose Sehfähigkeit und Bereit-
schaft. Im Umgreifenden kommt mir aus allen Ursprüngen das Sein entgegen. Ich
selbst werde mir geschenkt.
Beides ist möglich. Ich spüre im Substanzverlust meiner selbst das Nichts. Ich spüre
im Mirgeschenktwerden die Fülle des Umgreifenden.
25 | Keins von beidem kann ich erzwingen. Willentlich kann ich nur redlich sein,
kann vorbereiten und kann erinnern.
Wenn mir nichts entgegenkommt, wenn ich nicht liebe, wenn mir durch meine
Liebe nicht aufgeht, was ist, und wenn ich darin nicht ich selbst werde, so bleibe ich
am Ende übrig als ein Dasein, das nur wie Material verwendbar ist. Weil aber der
Mensch nie nur Mittel, sondern immer zugleich Endzweck ist,244 will der Philosophie-
rende vor jener doppelten Möglichkeit, in ständiger Bedrohung durch das Nichts, die
Erfüllung aus dem Ursprung.
 
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