Metadaten

Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0236
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
IWas ist Existentialismus?329

497

Wenn ein Jüngling in Paris auffällig gekleidet ist, nicht arbeitet, sich erotische Zügel-
losigkeiten erlaubt, im Cafe lebt und wunderliche Redensarten macht, sagt man, er sei
ein Existentialist; geschah dasselbe vor einem halben Jahrhundert in Berlin, so sagte
man, er sei ein Nietzscheaner. Das eine hat aber sowenig mit Sartre zu tun wie das an-
dere mit Nietzsche. Diese Philosophen werden von jenen Jünglingen gelesen, aber
nicht verstanden, da sie nur schlagkräftige und zugleich vieldeutige Formulierungen
herauszunehmen, nicht methodisch zu denken vermögen.
Sartre ist der Schöpfer des Existentialismus, der heute in der breiten Welt ein
Echo33° findet. Ohne Sartre wäre die Sache auf engere Kreise beschränkt geblieben. Sie
machte als Mode erst von sich reden, als der Dichter sie vertrat und in seinem dichte-
rischen Werk ihr Sprache gab. Das ist ein philosophisch zweideutiges Faktum. Was nur
in dichterischer Gestalt sich versteht, bleibt für den Hörer und Leser undurchdachte
Stimmung. In Auffassungen und Folgen ist sie dem Zufall preisgegeben und zeigt dann
jene absonderlichen Randerscheinungen, die mit dem Ursprung der Sache nicht viel
zu tun haben. Die Menge derer, die Sartres Dramen und Romane kennen, ist gewiß
außerordentlich viel größer als die der wenigen, die sein umfangreiches philosophi-
sches Werk lesen. Dichtung ist noch nicht Philosophie oder sie ist mehr als Philoso-
phie. Wie großartig auch immer uns eine Welt etwa in Balzac oder Dostojewski begeg-
net, unser Innerstes erregt, uns mitschwingen läßt, in solcher Gestalt wird Erlebnis
und Möglichkeit noch nicht zu Entschluß und Festigkeit der Existenz. Die Verführung
durch ästhetische Anschauung, wenn diese, statt Versuchsfeld im Spiel der Möglich-
keiten zu bleiben, zur Haltung des Lebens wird, vernichtet den Ernst. - Sartres Erfolg
als Autor von Dramen und Romanen beruht aber nun doch keineswegs allein | auf sei-
ner Kunst, die geschult ist an der Überlieferung der klassischen französischen Form,
sondern vor allem darauf, daß er die Nöte und Schrecken des heutigen Menschen aus
dem Denken her darstellt. Er möchte uns gegenwärtige Menschen zu unserem Bewußt-
sein, d.h. er möchte uns unsere Philosophie bringen, in der Stufenfolge vom eindrück-
lich einfachen, jedermann faßlichen Symbol bis zum verwickelten Gedanken. Seine
Dichtungen sind erfüllt von einer Haltung, die er zugleich durch ein großes systema-
tisches Werk (»L'etre et le neant«) denkerisch entfaltet hat. Erst daß er eine Philoso-
phie und eine Lebenshaltung für die Verzweiflung des heutigen Menschen zeigt, hat
seiner dichterischen Wirkung das eigentliche Gewicht geliefert. Für manchen gilt
diese Einheit von Philosophie und Dichtung als das Wort unserer Zeit, für sehr viele

498
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften