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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0084
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Grundsätze des Philosophierens

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die Gottheit fühlta. Aber bald kann die Aufklärung zu einem kaum tragbaren Anspruch
werden. Denn Gott wird aus der Freiheit keineswegs ohne weiteres und gar nicht ein-
deutig gehört, sondern nur im Gang lebenwährenden Bemühens durch Augenblicke,
in denen dem Menschen geschenkt wird, was er sich nie erdenken könnte. Der Mensch
vermag die Last des kritischen Nichtwissens inb Bereitschaft für das Hören im gegebe-
nen Augenblick nicht immer zu tragen. Er will das Letzte bestimmt wissen. Nachdem
er den Glauben verworfen hat, überlässt er sich dem Denken als solchem, das durch
den Verstand die Gewissheit bringen sollc in dem, worauf es im Leben entscheidend
ankommt. Da jedoch das Denken dies nicht leisten kann, kann die Erfüllung des An-
spruchs nur durch Täuschungen gelingen. Zu diesen Täuschungen gehört die gesamte
unübersehbare Menge logisch möglicher Verwechslungen.0 Insbesondere wird das kri-
tische Bewusstsein der Grenzen des Denkens preisgegeben, wird das endlich Be-
stimmte, einmal dieses, einmal jenes, in endloser Vielfachheit, verabsolutiert zum
Ganzen, wird die jeweilige Denkform für das Erkennen schlechthin gehalten. Es geht
verloren die Kontinuität der ständigen Selbstprüfung (der man sich durch die Schein-
gewissheit des jeweils Gedachten überhebt) und die des allseitigen Beziehens alles Ge-
dachten auf einander (der man sich durch Vergesslichkeit entzieht). So verkehrt sich
die Aufklärung in die Wirklichkeit beliebigen Meinens6 nach Zufall und Situation. Die
Aufklärung wird billig und in einer Scheinhelle zu einer neuen Form von Blindheit.
Da solche Aufklärung behauptet, alles aus eigener Kraft und Einsicht wissen und den-
ken zu können, liegt in ihr in der Tat ein eigenmächtiger Stolz. Aber sie verwirklicht
diesen unmöglichen Anspruch nur durch halbes Denken, ungezügeltes Denken, ver-
antwortungsloses Denken. Gegen alle diese Verkehrungen hilft nur die Verwirklichung
des Denkens mit seinen gesamten Möglichkeiten, mit seinem kritischen Grenzbe-
wusstsein und mit seinen gütigen Erfüllungen, die standhalten im Zusammenhang
des Erkennens. Nur eine mit der Erziehung des ganzen Menschen sich vollziehende
Ausbildung des Denkens verhindert es, dass ein beliebiges Denken zum Gift, die Helle
der Aufklärung zu einer tötenden Atmosphäre wird.
cc. Unumgänglichkeit des Glaubens: Es warf ein Irrtum falscher Aufklärung, dass
der Verstand aus sich selber allein Wahrheit und Sein erkennen könne. Der Verstand

a nach fühlt im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf., ein Enthusiasmus, den jeder in seiner Jugend, und
so lange er jung bleibt, wiederholt
b nach in im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. blosser
c Denken als solchem, das durch den Verstand die Gewissheit bringen soll im Vorlesungs-Ms. 1945/46
hs. Vdg. zu Denken des Verstandes als solchem, von dem er fälschlich die Gewissheit erwartet
d Zu diesen Täuschungen bis Verwechslungen, im Vorlesungs-Ms. 1945/46gestr.
e die Wirklichkeit beliebigen Meinens im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu das beliebige Meinen
f war im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu ist
 
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