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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0104
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Grundsätze des Philosophierens

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Weil unerkennbar, ist es in der Welt nicht als wahr garantierbar, ist daher unter den
Massstäben weltlicher Sicherheit ein unendliches Wagnis. Allein aus ihm kann ich in
ihm selber gewiss sein. Es ist absolut, auf keine Weise unter Bedingungen zu stellen,
vielmehr selbst Bedingung für den Sinn alles in der Welt erscheinenden Tuns und Wis-
sens. Als was es so ist, ist es unaussagbar, in kein Gesetz für alle und in kein Wissen für
alle zu verwandeln. Daher verbindet sich mit der unbedingten Wahrheit die Ge-
schichtlichkeit und mit dieser die Relativität alles von ihr Aussagbaren und Bestimm-
baren. Zur Absolutheit der geschichtlichen Unbedingtheit gehört die Relativität ihrer
allgemein werdenden Aussagen.
Umgekehrt gelten die Aussagen wissenschaftlicher Erkenntnis allgemein. Ihre
Richtigkeit ist zwingend für jeden, dessen Verstand sie begreift. Aber sie sind relativ
auf Gesichtspunkt und Methode der Denkungsweisen, für die sie sich zeigen. Sie sind
existentiell gleichgiltig, weil endlich, partikular, objektiv zwingend, perspektivisch -
für sie kann und darf kein Mensch sterben. Dagegen ist unbedingte Wahrheit die Exi-
stenz selbst; diese Wahrheit gründet Existenz und wird durch sie verwirklicht; sie ist
total, subjektivem Einsatz anheimgegeben, trifft auf das eigentliche Sein.
Kurz: Zur Absolutheit geschichtlicher Wahrheit gehört die Relativität jeder ihrer
Aussagbarkeiten und historisch endlichen Erscheinungsformen. Zur Allgemeingiltig-
keit erkenntnismässiger Richtigkeit in Aussagen gehört die Relativität der sie begrün-
denden Gesichtspunkte und Methoden.
Es ist eine Verkehrung, das Allgemeingiltige zu behandeln als ein Absolutes, aus
dem ich leben könnte. Das Allgemeingiltige besteht auch ohne mich. Zwar muss ich
es begreifen; das verlangt meine Wahrhaftigkeit, die das für die Erkenntnis Zwingende
nicht umgehen, es vielmehr zur Geltung kommen lassen will. Doch für dessen Inhalt
das zu fordern, was nur metaphysische Gehalte zu geben vermögen, das Bewusstsein
des Genügens am Sein, ist wie ein Betrug, der statt Seinserfüllung ein letzthin Leeres
bietet.
Ein Verhängnis aber ist die entgegengesetzte Grundverkehrung: die Verwandlung
der Absolutheit existentiellen Entschlusses zu einem Wissen vom Richtigen, oder der
geschichtlich gebundenen Unbedingtheit in allgemeingiltige Wahrheit für alle.
Die Folge solcher Verkehrung ist die Selbsttäuschung über das, was ich eigentlich
bin und will, ist Intoleranz (nichts gelten lassen äusser den eigenen zu Dogmen gewor-
denen Aussagen), Communicationsunfähigkeit (nicht hören können auf den ande-
ren, nicht offenen Blickes dem Fremden zuschauen, nicht redlich sich in Frage stellen
lassen können). Gierige Daseinstriebe (Machtwille, Grausamkeit, Sadismus, Zerstö-
rungstrieb usw.) werden die Bewegungskräfte in den halbwahren Masken solchen ver-
kehrten Wahrheitswillens. Diese Triebe finden dann durch vermeintlichen Einsatz für
Wahrheit bei grauenvoll unwahrer Selbstrechtfertigung ihre mehr oder weniger offene
Befriedigung.
 
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