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Grundsätze des Philosophierens
Ein grosses Beispiel ist das Christentum mit seinem Anspruch absoluter Wahrheit
für alle. Unser Wissen um das Ausserordentliche, was das Christentum bewirkt hat,
um die hohen Menschengestalten, die in seinem Glauben und durch diesen Glauben
lebten, kann nicht verwehren zu sehen, wie jene Grundverkehrung durch das Chri-
stentum im Gegensatz zum ursprünglichen Christentum ungeheure Gewalttätigkei-
ten, eine nie da gewesene Lügenhaftigkeit des Menschseins, niederträchtige Handlun-
gen und Gesinnungen zur Folge haben konnte, die sich in die Hülle heiliger absoluter
Wahrheit kleideten und darin tatsächlich Bejahung fanden.
f. Die Vielheit des Wahren und das Eine. - Es scheint die grösste Selbstverständlich-
keit, dass die Wahrheit nur eine sein kann. Dass es so sei, pflegt die garnicht mehr in
Zweifel zu ziehende Voraussetzung allen Denkens zu sein.
Auch wir zweifeln daran nicht. Aber was dieses Eine sei und was die eine Wahrheit,
das ist in der Tat das grösste Rätsel. Es scheint, dass jede Behauptung, die das eine
Wahre zu besitzen meint, im Irrtum ist. Alle vorweggenommene falsche Einheit des
Wahren wird verhängnisvolL
Das Eine ist wohl die entscheidende Triebkraft, die den Sucher des Wahren antreibt,
indem das Eine ihn gleichsam anzieht. Das Eine ist in dieser Weise, obgleich verborgen,
docha schon gegenwärtig, aber fühlbar dadurch, dass alle falschen Einheiten zerspringen.
Vernunft ist uns der Weg zum Einen. Das Eine liegt hinaus über alle fasslich wer-
denden Einheiten, die sogleich wieder viele sind.
Das Eine kann vielleicht entschieden in geschichtlicher Existenz gegenwärtig sein,
einmalig, nicht übertragbar, nicht wiederholbar, nicht in ein allgemein Gewusstes zu
verwandeln.
Einheit liegt im Offenen über alle begrenzenden Einheiten hinaus. Sie zeigt sich
indirekt im Bezogensein von allem, was ist und denkbar ist, auf einander. Sie zeigt sich
im Pathos des Einen, das die Concentration im Selbstsein eines Menschen bedeutet.
Es ist eine Unumgänglichkeit unseres Denkens, dass wir, wenn wir eines denken,
auch ein anderes denken müssen. Das Eine vermögen wir nur auf dem Wege über das
Viele oder die Zwei zu erreichen, aber auch dann nicht als das nunmehr erfasste Eine,
sondern nur in Schritten auf das Eine zu.
Die Denkformen, in denen wir das Eine denken, werden wesentlich an der Grenze,
wo wir das Sein der Transcendenz, damit zugleich die Immanenz (die Welt) denken.
Es ist wie die Wirkung eines verwirrenden Spiegels, dass uns, was wir denken möch-
ten, im Denken selber gerade verschwindet.
Trotzdem können wir nicht umhin, im Spiegel von Denkbarkeiten die Transcendenz
des Einen zu berühren. Wie wir es tun, hat Folgen für unser Seinsbewusstsein und die
diesem entspringende innere Haltung. Entweder denken wir einen radikalen Dualis-
nach doch im Ms. gestr. ständig
Grundsätze des Philosophierens
Ein grosses Beispiel ist das Christentum mit seinem Anspruch absoluter Wahrheit
für alle. Unser Wissen um das Ausserordentliche, was das Christentum bewirkt hat,
um die hohen Menschengestalten, die in seinem Glauben und durch diesen Glauben
lebten, kann nicht verwehren zu sehen, wie jene Grundverkehrung durch das Chri-
stentum im Gegensatz zum ursprünglichen Christentum ungeheure Gewalttätigkei-
ten, eine nie da gewesene Lügenhaftigkeit des Menschseins, niederträchtige Handlun-
gen und Gesinnungen zur Folge haben konnte, die sich in die Hülle heiliger absoluter
Wahrheit kleideten und darin tatsächlich Bejahung fanden.
f. Die Vielheit des Wahren und das Eine. - Es scheint die grösste Selbstverständlich-
keit, dass die Wahrheit nur eine sein kann. Dass es so sei, pflegt die garnicht mehr in
Zweifel zu ziehende Voraussetzung allen Denkens zu sein.
Auch wir zweifeln daran nicht. Aber was dieses Eine sei und was die eine Wahrheit,
das ist in der Tat das grösste Rätsel. Es scheint, dass jede Behauptung, die das eine
Wahre zu besitzen meint, im Irrtum ist. Alle vorweggenommene falsche Einheit des
Wahren wird verhängnisvolL
Das Eine ist wohl die entscheidende Triebkraft, die den Sucher des Wahren antreibt,
indem das Eine ihn gleichsam anzieht. Das Eine ist in dieser Weise, obgleich verborgen,
docha schon gegenwärtig, aber fühlbar dadurch, dass alle falschen Einheiten zerspringen.
Vernunft ist uns der Weg zum Einen. Das Eine liegt hinaus über alle fasslich wer-
denden Einheiten, die sogleich wieder viele sind.
Das Eine kann vielleicht entschieden in geschichtlicher Existenz gegenwärtig sein,
einmalig, nicht übertragbar, nicht wiederholbar, nicht in ein allgemein Gewusstes zu
verwandeln.
Einheit liegt im Offenen über alle begrenzenden Einheiten hinaus. Sie zeigt sich
indirekt im Bezogensein von allem, was ist und denkbar ist, auf einander. Sie zeigt sich
im Pathos des Einen, das die Concentration im Selbstsein eines Menschen bedeutet.
Es ist eine Unumgänglichkeit unseres Denkens, dass wir, wenn wir eines denken,
auch ein anderes denken müssen. Das Eine vermögen wir nur auf dem Wege über das
Viele oder die Zwei zu erreichen, aber auch dann nicht als das nunmehr erfasste Eine,
sondern nur in Schritten auf das Eine zu.
Die Denkformen, in denen wir das Eine denken, werden wesentlich an der Grenze,
wo wir das Sein der Transcendenz, damit zugleich die Immanenz (die Welt) denken.
Es ist wie die Wirkung eines verwirrenden Spiegels, dass uns, was wir denken möch-
ten, im Denken selber gerade verschwindet.
Trotzdem können wir nicht umhin, im Spiegel von Denkbarkeiten die Transcendenz
des Einen zu berühren. Wie wir es tun, hat Folgen für unser Seinsbewusstsein und die
diesem entspringende innere Haltung. Entweder denken wir einen radikalen Dualis-
nach doch im Ms. gestr. ständig