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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0006
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Vorwort

Philosophieren gelingt nicht in bequemem Lesen. Wir sind zwar gewohnt, Tatsachen-
berichte, Gedanken, Erzählungen als etwas der Form nach längst Bekanntes in geläu-
figer Sprache schnell aufzufassen. Philosophische Schriften dagegen muss man min-
destens zweimal lesen, Abschnitt für Abschnitt.
Es ist für das Verstehen aber unzweckmässig, am Satz zu hängen und nicht weiter
zu gehen, bevor man diesen Satz restlos verstanden zu haben glaubt. Vielmehr muss
unter Übergehen zunächst schwer überwindlicher Hindernisse ein Abschnitt im Gan-
zen und dann sogleich noch einmal gelesen werden. Der Gedankengang erleuchtet
sich nicht nur Schritt für Schritt nach vorn, sondern auch rückwärts; denn der phi-
losophische Gedanke erscheint häufiger in Kreisgestalten als in geradlinigem Fort-
schreiten. Was anfänglich fremd anmutet, wird mit einem Mal natürlich, wenn der
Gedanke aus seiner Mitte her gegenwärtig geworden ist. Was fast unverständlich
schien, wird dann einfach und klar. Die philosophische Einsicht pflegt plötzlich zu
geschehen, nach unverdrossener Mühe ausgelöst durch eine glückliche Formulie-
rung.
Die Inhaltsübersicht ist eine Orientierung, die bei der Lektüre ständig begleiten
möchte. Sie darf den Leser anregen, vorwegnehmend aus späteren Teilen zu lesen. Die
Bindung der Lektüre an die Reihe der Abschnitte erschwert das Verstehen für den, der
frei zu ergreifen vermag, was ihm in seiner geistigen Situation für das Gesamtverständ-
nis gerade wesentlich erscheint, oder was ihn unmittelbar anspricht. Eine philoso-
phische Schrift ist nicht wie eine Erzählung, die man von Anfang bis zu Ende durch-
liest, sondern wie ein Garten, in dem man, um ihn aufzufassen, auf mannigfache
Weise hin und her geht, bis man schliesslich von ihm Besitz genommen hat.
Der Gedankenvollzug des Philosophierens ist ein Üben nicht nur des Denkens,
sondern der inneren Haltung. Mit der Einsicht in das Gesagte erwächst ein Seinsbe-
wusstsein. Im Lesen erwächst eine Stimmung und mit ihr eine Denkungsart. Daher
ist Bedingung des Verstehens die kontemplative Vertiefung. Es ist notwendig, bei ei-
nem Gedankenganzen zu verweilen. Die Wahrheit ist zu prüfen am Kriterium des ei-
genen Schonwissens, das im Aufnehmen der Gedanken sich nur klar wird.
Diese Schrift möchte eine Ermunterung zum philosophischen Leben, ein moder-
ner Protreptikos sein. Ihr Endziel ist praktisch. Sie fordert den Ernst des aus sich selbst
entgegenkommenden Lesers. Sie wünscht mitzuhelfen, Wesentlichkeit im einzelnen
Menschen zu erwecken. Sie will ermutigen durch Vergewisserung des Umgreifenden,
 
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