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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0131
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Grundsätze des Philosophierens

physisch-transcendierenden Offenbarwerden des Seins.107 Statt solche Erfahrungen
zum Ursprung der Selbstgestaltung in der Welt werden zu lassen, bleiben sie bei ver-
hängnisvoller Spaltung für sich isoliert als das Wahre gegenüber dem realen Dasein,
das ablaufen mag, wie es will. Denn jene Seinseinung in metaphysischer Erfahrung,
sei es in Bewusstseinsverwandlungen, sei es im erfüllten speculativen Transcendieren
des Gedankens, wird dann sich selbst genug. Wer sie hat, meint von gut und böse nicht
mehr berührt zu werden. Er fühlt sich erhaben über die Welt und über sein Dasein.
Dass die Loslösung geschieht, ist ihm das Wesentliche. Bei solcher Spaltung macht er
mit dem einen Leben, in guten Augenblicken, die metaphysischen Erfahrungen, als
ob das Rätsel des Seins im Grunde offenbar würde, und fühlt sich damit in der Ewig-
keit. Mit dem anderen Leben ist er in der Welt, als ob er nicht lebe. Dort gestatte er sich
alles oder verbiete es sich, wie es gerade kommt; denn nichts hat dort mehr Gewicht.
Er sieht zu, welcher Art dieses mit ihm verbundene, ihm anhängende Dasein ist, von
dem er sich in jenem Innen schon gelöst hat. Er braucht keine Rechtfertigung und
keine Entschuldigung, denn er lebt jenseits von gut und böse, von wahr und falsch, da
er in dem tieferen Grunde der eigentlichen Wahrheit und des eigentlich Guten gewiss
ist, das nicht mit ihm in diese Welt tritt. Solche Gestalt hat etwa die Samkhya-Philo-
sophie in den Grossstädten der Guptazeit angenommen;108 und so hat Schopenhauer
die Tiefe der indischen Philosophie in eine aesthetische Lebensform verwandelt mit
der Zufriedenheit eines »reinen intellektuellen Gewissens«.109 So werden die zwei Le-
ben nebeneinander verwirklicht: es wird die Welt verlassen mit etwas, als das ich mich
selbst fühle, ohne als dieses in der Welt zu sein und zu wirken, - und zugleich bleibe
ich in der Welt mit allen meinen Affekten und Leidenschaften dieser Artung, die ich
nun einmal bin, ohne sie als mein eigentliches Sein anzuerkennen.
Ganz anders ist es, wenn das auf Augenblicke beschränkte Aus-der-Welt-treten in
Sinnzusammenhang mit meinem Weltdasein bleibt. Nicht im Ganzen [,] sondern par-
tikular, nicht immer[,] sondern für Augenblicke und Stunden, wird ein Aus-der-Welt[-]
treten vollzogen in metaphysischer Besinnung oder auch in mystischen Bewusstseins-
verwandlungen. Hier wird getan, was in irgendeiner Form für den Menschen, der zu
sich kommen will, unausweichlich ist. Von daher gewinnt er nicht nur unersetzliche
Klarheit - gleichsam von einem Standpunkt ausserhalb -[,] sondern auch Kräfte in der
Welt. Solche Meditation lässt Ursprünge wirksam werden zur Überwindung der Welt
in der Welt selber, lässt Massstäbe entstehen zur Abschätzung der Dinge in der Welt,
treibt zur Selbstprüfung in der Daseinsrealität, bringt zum Aufschwung in der Welt-
verwirklichung. Dann bleibt das Ausser-der-Welt-Sein und In-der-Welt-Sein verbun-
den. Gegenüber dem Abweg jener Spaltung ist diese Bindung gefordert.
Denn Erscheinung des Weltseins bedeutet nicht, dass die Welt Schein sei. Für den
Menschen ist die Frage, wie er das Sein in der Erscheinung erfahre, ergreife, verwirkli-
che. Wohl wurde in grossartigen Gestalten die Welt preisgegeben als gleichgültig im
 
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