Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0145
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
142

Grundsätze des Philosophierens

absichtlicher Nähe zur Realität der Dinge, aus einem unbegründbaren Ahnungsvermö-
gen des Forschers? Es ist wohl möglich, die grossen Erfolge der Forschung, wenn sie da
sind, nachher aus den Principien zu verstehen, mit denen die Forschung begann. Aber
bei der Entstehung sind sie noch keineswegs in dieser ihrer Bedeutung vollständig klar.
Warum begründeten Galilei, Lavoisier Forschungsbewegungen, deren Ergiebigkeit, mit
Sprüngen neuer Ansätze, bis heute andauert? Lavoisier z.B. machte folgende Vorausset-
zungen, die zwar alle schon vor ihm gedacht waren, die aber erst er unablässig festhielt,
keine Ausnahmen zulassend, auf ihnen als auf absoluten Wahrheiten bauend: Was nicht
weiter auflösbar ist, ist ein Element; - die Materie wird weder vermehrt noch vermin-
dert; - die Masse jeder Materie wird zuverlässig am Gewicht erkannt (da alles, was ist, der
gleichen Schwerkraft unterliegt). Die Wa[a]ge wurde auch vor ihm angewendet, aber
durch ihn wurde die Exaktheit, Ausnahmslosigkeit, das Unumgängliche der Vorausset-
zungen, die Compromisslosigkeit der gedanklichen Consequenz zum Ursprung der Ent-
deckungen. Die Voraussetzungen waren gegen den Augenschein, der jederzeit verführt,
sie aufzugeben. Was unterscheidet Lavoisier von einem speculativen Fanatiker? War es
geistige Grösse oder war es der glückliche Zufall? Die Urheber der Forschung und die
Menge der Mitarbeiter in der Folge glaubten an die absolute Wahrheit dieser Vorausset-
zungen und erhoben daher den Anspruch ihrer absoluten Geltung. Aus den Wissen-
schaften aber erhob sich jedesmal, wenn ein radikaler Versuch mit neuen Voraussetzun-
gen gemacht wurde, der Sturm von Seiten der jeweiligen Besitzer der Wahrheit gegen
den neuen Unsinn. In der Folge trat dann der Augenblick ein, wo die Grenzen auch der
neuen Voraussetzungen und der Bereich ihrer Geltung sich der Erkenntnis aufzwang.
Dabei wurde jedoch nur klarer: Alle Wissenschaft operiert mit Voraussetzungen, die
nicht absolut gelten, nicht das Sein selbst treffen, sondern einen Zug in seiner Erschei-
nung. Die Voraussetzungen sind nur Versuche. Unter zahllosen vergeblichen Versuchen
blosser Speculation finden sich spärliche, aber erstaunlich wirksame Treffer. Daher be-
steht eine Abneigung aller echten Forscher gegen gedankliche Entwürfe als solche, so-
fern sie nicht ihre Fruchtbarkeit in der Erfahrung gezeigt haben und nicht weitere Chan-
cen für neue Erfahrung geben.
Der Grundzug dieser Wissenschaft ist: Grade im Relativieren der Voraussetzungen
ist der feste Boden des Allgemeingiltigen, des zwingend Gewissen in der Erfahrung der
Realität zu gewinnen.
2: Universale Wissenschaftlichkeit:119 Die neue Wissenschaft begann mit der ma-
thematischen Naturwissenschaft. Was jedoch als Antrieb hinter diesen Entdeckungen
stand, konstituierte sich als universale Wissenschaftlichkeit in einer bis dahin in der
Welt noch nicht dagewesenen Gestalt. Die griechische Wissenschaft (mit Ausnahme
einiger Wege der Mathematik und des platonischen Denkens) lebte im Raum einer
Vollendung und war daher im Ganzen eigentlich immer fertig. Die griechische Wis-
senschaft erreichte nicht die Universalität, weil sie in der Totalität stecken blieb, die
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften