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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0153
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Grundsätze des Philosophierens

senschaft in der Gestalt bestehen, die sie unter dem Glauben an den Schöpfer ange-
nommen hatte: die Welt hat keinen eigenen Grund in sich selbst; ihre frühere Tiefe
durch Mythus und Magie ist endgiltig verloren; dogmatisierte Reste wissenschaftli-
cher Ergebnisse geben das trostlose Weltbild für leer gewordene Seelen. Genauer gibt
es in dieser Lage - Welt ohne Gott am Ende der Wissenschaft - folgende drei Möglich-
keiten:
1) Bleibt das Erkennen noch redlich, so bleibt auch die Bodenlosigkeit der Welt für
das Bewusstsein bestehen; denn aus dem Erkennen selbst erwächst immer von neuem
grade mit der Klarheit der Erkenntnis das Wissen um die Grenzen, die als solche wie
eine Aufforderung wirken, den Sprung zu gewinnen zur Transcendenz, die nicht er-
kennbar ist und die für Erkenntnis nichts ist. Die ungeschlossene Welt in ihrer Boden-
losigkeit wird nur in relativen Perspektiven erkannt; das Sein als Dasein erweist sich
als zerrissen. Wenn auch der Sprung zur Transcendenz ausbleibt, so bewirkt doch seine
blosse Möglichkeit den grossen, redlichen, geistig-asketischen Forscher.
2) Die Welt in ihrer Bodenlosigkeit wird wegen ihres Mangels an Sinn unerträglich.
Wenn das Wissen um die Sinnlosigkeit noch einen Augenblick jenes Forschen ins
Grenzenlose, genährt aus dem Wahrheitsantrieb der Vergangenheit, zuliess, so ist das
nur ein Übergang. Bei verwirklichter Gottlosigkeit hört schliesslich auch das Wahr-
heitsinteresse auf. Enttäuschung und Haltlosigkeit drängen in den Nihilismus. Selbst
das zunächst noch gebliebene technische Daseinsinteresse kommt schliesslich aus sich
selbst allein nicht mehr voran.
3) In der Unerträglichkeit des Bodenlosen will der Mensch Halt. An die Stelle des
eigentlichen Wahrheitsinteresses tritt die Verfestigung von Meinungen, Bildern, Sät-
zen, die als Ergebnis der Wissenschaft gelten. Der Wissenschaft wird, indem man sie
faktisch verlässt, zugemutet, was sie nie leisten konnte. Die Welt eine Maschine, er-
kannt in der mechanistischen Wissenschaft; die Welt ein Allleben, erkannt in der Bio-
logie; auf Grund dessen jeweils eine Reihe unantastbarer Behauptungen, die genau so
auftreten wie früher die dogmatischen Glaubenssätze, - das wird der Inhalt der Wis-
senschaft, die als eine vorausgesetzte, schon bestehende jetzt nur noch durch Erfah-
rungen illustriert, nicht mehr eigentlich erweitert und vorangetrieben wird; nur jour-
nalistisch mag sie in der Darstellungsweise noch abgewandelt werden?

a nach werden, im Ms. gestr. 11 Nietzsche geht alle diese Wege. Sogar den Weg der Verfestigungen von
in der Wissenschaft entstandenen Begriffen im Wissenschaftsaberglauben geht er dann, wenn er
vergisst, was er an anderen Stellen als Sinn und Methode der Wissenschaft entwickelt hatte; in
dieser Vergessenheit glaubt er dann mit physiologischen Redensarten irgendetwas gesagt zu ha-
ben. »Der Arzt sagt unheilbar, der Philologe Schwindel«, das war nur einer dieser gegen das Chri-
stentum gerichteten zahllosen Sätze bei Nietzsche, die - mögen sie auch gegenüber Entartungen
und Entgleisungen aller Religionen wahr sein - jeder Arzt und jeder Philologe, der bei der Wissen-
 
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