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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0152
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Grundsätze des Philosophierens

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den ist, weiter schon gegen das Bewusstsein und die Reflexion als solche, welche das
Leben störe und zerstöre, das alles sind zwar typische, aber bedeutungsarme Beiläufig-
keiten der neuen Zeiten3.125
Einiges in diesen revoltierenden Stimmungen ist zu verstehen aus den Antrieben,
die wir in dem Ursprung der modernen Wissenschaft sahen. Die Entwicklung der Wis-
senschaft schien uns gebunden an die geschichtlich bedingte Struktur einer tiefen
Seele. Da sie auf einem verletzlichen, keineswegs durch verlässliche Dauer für Genera-
tionen garantierten Grunde ruht, hat die Wissenschaft specifische, zu ihr gehörende
Gefahren: Sie beruht auf einer Verwicklung der Motive, so verschlungen, dass bei Weg-
fall eines einzigen die Wissenschaft selbst lahm oder leer werden kann; die Folge ist,
dass in der modernen Welt in allen Jahrhunderten Wissenschaft als Wirklichkeit stets
selten war und seltener geworden ist. Der beherrschende Lärm der Ergebnisse in der
Gestaltung der materiellen Welt und in den Phrasen der auf dem ganzen Erdball gere-
deten »aufgeklärten« Weltanschauung kann nicht darüber täuschen, dass die Wissen-
schaft, dieses so scheinbar Geläufigste, das Allerverborgenste ist. Der moderne Mensch
als solcher weiss zumeist garnicht, was Wissenschaft ist, hat nicht eigentlich erfahren,
was zu ihr treibt. Selbst die Forscher, die auf ihrem Fachgebiet noch Entdeckungen ma-
chen - unbewusst eine von anderen Mächten in Gang gebrachte Bewegung vermöge
der Consequenzen, die sich aus der Natur der einmal entdeckten Sache noch ergeben,
eine Weile fortsetzend -, wissen oft nicht, was Wissenschaft ist, und verraten es in ih-
rem Verhalten ausserhalb jenes kleinen Gebiets, in dem sie noch Meister sind. Mo-
derne Philosophen reden über Wissenschaft, als ob sie sie kennten [,] und lassen sie
dann gar zu einer historisch vorübergehenden Irrung der Weltanschauung werden.
Selbst Philosophen von der Grösse Hegels wissen nichts von dieser Wissenschaft.
Hat man die existentiellen Gründe des Antriebs zur Wissenschaft gespürt, so sieht
man die Gefahren für den Menschen, der mit Wissenschaft in Berührung kommt,
wenn er sie nicht aus seinem Wesen erfasst. Dann sieht man, wie die Verwechslungen
geschehen. Nach einer Erwartung von der Wissenschaft, dass sie als solche - ohne jene
Antriebe, die wir charakterisierten - das gebe, was Leben und Glauben begründet und
alles Handeln lenkt, nach dieser wissenschaftsabergläubischen Erwartung ist die Ent-
täuschung dieser Erwartung von der Folge, Wissenschaft als sinnlos und lebensfern zu
verwerfen, ja die Wissenschaft anzuklagen wegen der eigenen Ratlosigkeit. Es findet
ein Schwanken statt zwischen Wissenschaftsaberglauben und Wissenschaftshass.
Diese aber sind nur die rohesten Endphänomene, denen ein Process vorhergeht, den
Nietzsche repräsentativ verwirklicht:
Wenn angesichts der bewunderten Ergebnisse der Wissenschaft Gott gestrichen
wird, so bleibt die Schöpfung ohne Schöpfer. Diese Schöpfung bleibt aber für die Wis-

neuen Zeiten im Ms. hs. Vdg. für Moderne
 
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