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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0173
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Grundsätze des Philosophierens

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Welle oder als Korpuskel erscheint, liegt an den Versuchsbedingungen, die je nur das
eine bestimmen und das andere notwendig unbestimmt lassen. Die Denkform der Kom-
plementarität, die dieses Widersprechenden Herr wird, soll auch dem Leben gegenüber
anwendbar sein. Während in den makroskopischen und in den optisch zugänglichen
mikroskopischen Lebenserscheinungen immer ein Abgrund zwischen Leben und Leb-
losem3 sich zeigt, soll dieser im atomaren Geschehen nicht mehr da sein. Dieses ato-
mare Geschehen aber ist der Grund, in dem alle Lebenserscheinungen wurzeln. Die
Gene (Vererbungsträger) sind von der Grösse sehr umfangreicher Moleküle; die Steue-
rungen des Lebens, in denen das eigentlich Lebendige liegt, gehen von Orten atoma-
rer Grösse aus; die Mutationen sind atomare Veränderungen in den Gen-Molekülenb.
Das sichtbare Leben ist die Folge kleinster Ereignisse (freier Entschlüsse) im atomaren
Geschehen, wie die Lawine die Folge eines Gemsensprungs im Schnee sein kann.
Diese Erörterungen sind von hohem Interesse. Sie haben den Blick gelenkt auf tat-
sächliche Beobachtungen (Art der Abhängigkeit der Mutationen von Röntgenstrahlen,
der Tötung der Bakterien durch Strahlen u.dergl.). Ihre grundsätzliche Bedeutung scheint
mir jedoch zu Unrecht behauptet. Auch das atomare Geschehen ist ein materielles als
Mittel des Lebens oder ist ein Boden des Lebens, ist nicht das Leben selber. Die Steuerun-
gen z.B. liegen nicht einfach im Atomaren als dem Ausgang einer Lawine, sondern Steue-
rung erfordert das Zusammen von Steuern und Gesteuertem unter einem Ganzen, das
nirgends sitzt und selber kein atomares Geschehen ist. Man hat einfache chemische Stoffe
als Steuerungen entdeckt, aber die Wirkung dieser Stoffe setzt ein entsprechendes Be-
reitsein und Reagieren aus dem Bewirkten her voraus. Steuerung ist nicht ein atomares
Entscheidungsgeschehen, sondern dieses atomare Entscheidungsgeschehen ist für das
Leben, wie alles materielle Geschehen, ein Mittel. Wie das geschieht, ist Gegenstand ex-
perimenteller Forschung. Wodurch dies Geschehen Mittel des Lebens wird, das bleibt das
grundsätzlich unauflösbare Rätsel. Es handelt sich in dem jeweils auf diesem Wege Er-
kannten, wie früher so auch jetzt in der Atomphysik, um physikalische Chemie; der Ge-
genstand ist nicht das Leben selber. Alle Gesetze der Physik erweitern auch das Wissen
von der lebendigen Substanz, aber das bedeutet nie, dass das Leben daraus erklärt werde.
Die Atomphysik hat zwar den alten Mechanismus der klassischen Physik über-
schritten, aber das heisst nicht, dass ihr Gegenstand selber nicht dem Leblosen im Un-
terschied vom Lebendigen, dem Mechanismus im Unterschied vom Organismus an-
gehöre. Die Atomphysik wiederholt auf sublime und verführende Weise den alten
Versuch, das Leben zugunsten eines einheitlichen physischen Naturgeschehens zu
subalternisieren, diesmal durch Verlegung des Lebendigen in das atomare Geschehen:
dessen Charaktere aber reichen nicht aus, um schon das Lebendige sein zu können. -

a statt Leblosem im Ms. und in der Abschrift A. F. Leblosen
b Gen-Molekülen nach der Abschrift A. F. statt Gen-molekülen im Ms.
 
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