Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0172
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Grundsätze des Philosophierens

169

spricht, in die sie das Lebendige einfangen möchte. Die Folge ist nicht Offenheit der
erkennenden Seele für das Lebendige, sondern der Rationalismus des Hineinzwingens
des Lebendigen als Lebendigen in eine andere Weise des Leblosen. Beim Psychovita-
lismus geschieht die Verkehrung durch Verwandlung des erfahrbaren inneren Erle-
bens aus einem Gleichnis in die Objektivierung einer bewusstlosen Realität. Dadurch
wird (statt sich zu begnügen mit einer teilweisen Vergleichbarkeit bewussten Erlebens
und bewusstlosen Geschehens) das Biologische aus den Augen verloren. Indem das
Rätsel der Tiefe gleichsam handgreiflich gelöst wird, droht mit solcher Pseudolösung
die wissenschaftlich zwingende Einsicht und die fühlbare Gegenwärtigkeit des Lebens
zugleich verloren zu gehen.
ß) Die Zurückführung des Lebens auf das Leblose (Mechanismus): Wo immer Le-
ben ist, da ist Materie. Wo Materie ist, unterliegt sie den universalen Gesetzen ihres
Geschehens. Das Leben ist - so behauptet die mechanistische Position - eine verwik-
kelte Erscheinungsform materieller Zusammenhänge. Alles, was causal im Leben er-
kannt wird, ist im Grunde dasselbe Geschehen, in denselben Kategorien, wie das leb-
lose Geschehen. Der Mechanismus des Lebendigen ist das Leben selber. Was das Leben
ist, das liegt schon im Unlebendigen. Eine einzige Quelle ist es, aus der beides einheit-
lich erwächst.
Gegen diese Position steht die Gesamtheit der Lebenserscheinungen, die man ein-
zeln als aus dem Leblosen unbegreiflich aufzählt (z.B. Reizbarkeit, Sensibilität, Reaktivi-
tät, Eigenbewegung, Stoffwechsel, Fortpflanzung, Vererbung, Wachstum, Formbildung,
Regeneration usw.). Aber was das Leben sei, ist in einer geschlossenen Gesamtheit von
Definitionen nicht endgiltig bestimmt. Die denkende Anschauung des Lebendigen klärt
sich ins Unendliche mit der Erkenntnis des Leblosen sowohl wie des Lebendigen.
Die neuesten Erkenntnisse der Atomphysik haben zu dem Versuch geführt, wieder
einmal grundsätzlich die Eigenständigkeit des Lebens zu leugnen, und zwar wieder auf
Grund von Erklärungen bis dahin als specifisch lebendig geltender Erscheinungen. Als
eine der Grundeigenschaften des Lebendigen galt die spontane Bewegung, die als Will-
kür der Berechnung sich entzieht; im morphologischen und physiologischen Gesche-
hen galt als das Lebendige die Steuerung, die das an sich mechanische, physikalisch-
chemische Geschehen ordnet und auf Ziele gerichtet hält.
Bohr und in seinem Gefolge P. Jordan haben nun die neue Atomphysik angewen-
det, um den Zusammenhang des Lebens mit dem Leblosen dadurch begreiflich zu ma-
chen, dass jene und andere Grundeigenschaften des Lebens schon in dem atomaren
Geschehen vorbereitet liegen und grundsätzlich - was Kategorien und Methoden ih-
rer Erkenntnis betrifft - identisch sind. Das atomare Geschehen entzieht sich wie das
lebendige »der festlegenden Objektivierung seiner inneren Zustände.«146 Was ein ein-
zelnes Atom der radioaktiven Substanz tun wird, ob es jetzt oder erst in Jahrtausenden
zerfällt, das ist nicht vorauszusehen und causal nicht zu begreifen. Ob das Atom als
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften