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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0216
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Grundsätze des Philosophierens

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Grundsätzlich anders wird die Frage nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der
Welt in der modernen Physik. Die Relativitätstheorie hat die Möglichkeit der endli-
chen, aber unbegrenzten Welt durch die Hypothese des gekrümmten Raumes gezeigt.
Was hier gemeint ist, ist eine aus Messungen erschlossene unanschauliche Realität.
Die anschauliche euklidische Welt bleibt für die der menschlichen Praxis zugängli-
chen Grössenverhältnisse als real und wahr bestehen. Der reale Raum der Welt ist zwar
nicht mehr der anschauliche Raum, ist daher überhaupt eigentlich nicht Raum, son-
dern eine mathematische Grösse von mehreren Dimensionen. Hier verliert die Frage
nach der Endlichkeit und Unendlichkeit der Welt ihr Pathos, sie ist eine an sich neu-
trale Angelegenheit rein objektiver Forschung. Darum aber handelt es sich auch gar-
nicht mehr um das Weltganze, sondern [um] eine Realität im Weltganzen, wenn diese
Realität wirklich bestehen sollte, d.h. wenn eines Tages derselbe Stern, wie etwa die
Sonne, seine Lichtstrahlen von zwei einander entgegengesetzten Seiten zu uns kom-
men liesse, unmittelbar aus der Nähe und ausserdem als winziges, nur durch feinste
Instrumente erkennbares Sternchen auf der der Sonne gegenüberliegenden Seite des
Himmels. Die Frage nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt wäre in ande-
rer, neuer Gestalt - ohne die Raumanschauung - wieder da.
Das Ganze der Welt wurde in Weltbildern vor Augen gestellt, z.B. als der Mechanis-
mus von Massen gleichartiger Materie, die im Raum verteilt ist; die Sterne sind wie eine
Staubwolke, ein Tanz des Zufalls, die Atome sind letzte Teilchen, die in Stoss und
Druck, in Anordnung und Bewegung alles hervorbringen, was da ist.
Heute ist dieses Bild verwandelt und bereichert. Das All der Sterne ist in wenigen
Jahrzehnten unserer Kenntnis in neuen Weiten zugänglich geworden, einerseits durch
die Folgerungen der Atomphysik, andererseits durch gesteigerte Leistungen der Fern-
rohre und der spektroskopischen Aufnahmen. Die Welt der Spiralnebel zeigt heute eine
phantastisch anmutende Realität, nicht erdacht, sondern in Photographien sichtbar.
In Theorien aber sind Möglichkeiten der Kosmogonie denkbar geworden, die zwar,
auf unzureichende Tatbestände gegründet, zur Zeit noch blosse Gedanken sind, aber in
eine Weite der Welt ausholen, dass das Weltganze als eine ungeheure Einheit in den Griff
der Erkenntnis zu kommen scheinen könnte: Die Materie hat eine Geschichte im Aufbau
der Elemente aus den Urteilchen. Da in aller Welt die gleichen Elemente vorkommen,
könnte einst die Welt in einer Urexplosion entstanden sein, bei der unter Freiwerdung
ungeheurer Energiemengen die Elemente sich bildeten, die Welt in eine Expansion ge-
riet, die heute noch andauert und die heute noch Reste der freigewordenen Energie in
den kosmischen Strahlen feststellen lässt, welche [,] durch die endliche Welt des ge-
krümmten Raumes gegangen[,] von allen Seiten gleichmässig, in dünnster1 Verteilung[,]
aber mit einer alle anderen Strahlen gewaltig übertreffenden Energie auf unsere Erde tref-

dünnster im Ms. hs. Vdg. für feinster
 
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