Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0267
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
2Ö4

Grundsätze des Philosophierens

rische Wirkungen erzielt werden, entscheidet nur über das Mass, in dem spätere Men-
schen von ihm wissen, keineswegs aber über die Ewigkeit seines Seins in seinem Wert.
Das Ganze aber, das nicht nur ein Ganzes[,] sondern wirklich das Ganze ist, hat
nicht den Charakter, als ein Sichtbares, Gedachtes, Erkanntes, Eindeutiges da zu sein.
Ihm zu dienen, dafür ist der in der Zeit entscheidende Weg zuletzt immer wieder der
Weg des Selbstseins der Existenz, die ihre Unbedingtheit wagt. Der höchste Wert im
Einzelnen wird die Gestalt, in der paradoxerweise der höchste Wert des Ganzen in der
Zeit sichtbar ist.
3. Das Ganze ist nur im gewussten Bilde, das der Einzelne hat - und das Geschehen
des Ganzen ist an sich: Die Weltgeschichte im Grossen zeigt nicht die menschliche
Substanz, die erst im Einzelnen wirklich werden kann. Sie zeigt vielmehr das, was
durch die Masse der Menschen in Wechselwirkung aller wirklich wird.
Der Einzelne vermag von seiner Situation her die Situation eines Zeitalters im Gan-
zen der Geschichte zu denken. Seine Situation hat er durch Teilnahme an einer Ge-
samtsituation. Aber diese Gesamtsituation hat ihre bewusste, weil faktisch erlebte
Wirklichkeit doch wieder nur im Einzelnen. Denn was als Ganzes ist, das ist es für uns
nur so, wie es gewusst wird. Es muss in einem Bewusstsein in einem Menschenleben
zusammenkommen. Weltgeschichte als Ganzes ist nur, wie sie jeweils von einem Kopf
angeschaut und gedacht wird.
Dagegen steht immer wieder die Voraussetzung aller geschichtsphilosophischen
Entwürfe, die Weltgeschichte sei doch an sich ein Ganzes. Dieses Ganze wurde, der
Meinung nach, erkannt von Augustin bis Hegel und in nachfolgenden Verdünnungen
bei Marx, Spengler u.a. Jedoch jedes solches Ganze ist gewonnen durch Spekulation.
Es ist ein Sinngebilde für die Aneignung der jeweils zugänglichen Weltgeschichte aus
dem eigenen Ortsbewusstsein mit seinem Zukunftsbild. Jedesmal wird ein Totalaspekt
eines Totalgeschehens entworfen. Aber solche Totalitäten sind entweder durch Verab-
solutierung gewonnen; oder sie bedeuten eine aesthetische Anschauung, welche ab-
schliesst, was an sich nach allen Seiten offen ist; oder sie haben eine symbolische Be-
deutung für ein Seinsbewusstsein. Alle solche Totalitäten sind in der Folge der Zeitalter
durch neue Deutungen verwandelbar und tatsächlich verwandelt; sie werden durch
das, was inzwischen geschehen ist, neu fundiert; sie gewinnen durch neue Entdeckun-
gen von Dokumenten und Monumenten vergangener Zeiten weitere Dimensionen
und Fragestellungen.
Die versuchten Bilder der Weltgeschichte im Ganzen wären jedoch völlig sinnlos,
wenn in ihnen nicht doch ein Reflex eines an sich seienden Ganzen leuchtete. Die kri-
tischen Einwände zerstören wohl das vermeintliche Wissen, aber nicht das metaphy-
sische Bewusstsein eines Totalzusammenhangs. Es liegt eine Wahrheit in der Voraus-
setzung, alles Geschehen der Geschichte sei ein Ganzes aus dem gottgeschaffenen
Ursprung und Ende. Aber diese Wahrheit wird im Wissen gerade verfehlt. Sie ist nur
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften