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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0266
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Grundsätze des Philosophierens

263

Daraus aber erwächst eine falsche Suggestion. Es scheint, dass eigentlich nur Wert
hat, was der Gemeinschaft und damit der Überlieferung zugute kommt. Was diesem
Zusammenhang entzogen bleibt, ist wie nichts. Das aber wird ein metaphysisch blin-
der, in die Immanenz beschränkter Standpunkt.
Denn es ist ein unmittelbarer Bezug alles Seienden zum Seinsgrund. Ein Eigenwert
liegt in jedem Dasein. Wie die Schönheiten der Natur sich entfalten, ohne dass eines
Menschen Auge sie zu sehen braucht, wie der Schmetterling im Urwald Brasiliens lebt,
ohne dass jemals ihn ein Blick trifft,204 so und anders noch ist gewiss menschliches Le-
ben, das reich, tief, wahrhaftig in sich war, jedem Blick der geschichtlichen Erinne-
rung entzogen. Oft war es in Communication mit den Nächsten, manchmal schlecht-
hin einsam. Was sein Wert ist, untersteht keiner historischen Instanz.
dd. Wahrheit der Werthierarchien: Die Hierarchie der Werte, wie sie durch Wir-
kungsumfang, jeweilige Öffentlichkeit des Sichtbaren, durch Macht und Geltung be-
stimmt ist, ist nicht die letzthin wahre. Was wahr ist vor Gott in der Ewigkeit, kann
vielleicht, gemessen an jenem Wirkungsumfang und seiner historischen Sichtbarkeit,
für menschliche Auffassung falsch sein vor der Weltgeschichte, wie sie jeweils einem
deutenden Auge erscheint. Daher besteht in der Realität faktischer Geltungen und für
das Denken des Möglichen eine Mehrheit von Werthierarchien, die in der Erscheinung
der Geschichte mit einander im Kampfe stehen.
Was für den Menschen das zuletzt Bestimmende ist, wofür er daher in den Tod ge-
hen kann, das ist nicht für alle Menschen das gleiche. Wenn vielleicht alle Werte alle
Menschen irgendwie ansprechen können, so gilt doch nicht eine eindeutige Rangord-
nung dieser Werte. Was grundsätzlich den anderen Werten vorgeht, ist entscheidend
für den Glauben des Menschen. Dieses Vorzuziehende ist aber nicht als das eine allein
Wahre allen Menschen zuzumuten, äusser seitens intoleranter Selbstgewissheit. Der
einzelne Mensch zwar, wenn er wirklich wird, stellt sich in eine bestimmte Weltord-
nung. Nur wenn ihm ein Unbedingtes in solcher Ordnung gilt, kann er wesentlich
werden. Dieses Wesentlichwerden bedeutet einen Weg, der andere Wege ausschliesst.
Der Einzelne steht mit seiner Unbedingtheit, auch wenn er mit ihr einem besonderen
Ganzen angehört, gegen das Ganze schlechthin. Ein gewusstes gütiges Ganze kann
immer nur die falsche Verabsolutierung eines Besonderen für alle sein. -
Die erörterten Gesichtspunkte sind zusammenzunehmen, um sich vor der Vernich-
tung im nur Objektiven, vor dem Verschwinden im Ganzen, vor der Entleerung des
Selbstseins zu erretten. Es gibt eine Behexung durch weltgeschichtliche Anschauung,
welche ruinös ist für Existenz. Was in der Geschichte aus eines Menschen Sein und
Tun wird, liegt nicht an ihm. Er hat es nicht in der Hand, durch sich historische Wir-
kungen zu erzielen; er hat dies auch nicht sinnvoller Weise als Plan, obgleich es in
selbsttäuschender Weise als Ruhm begehrt wird. Ob durch eines Menschen Tun histo-
 
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