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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0271
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Grundsätze des Philosophierens

nur die Geistesgeschichte, während Existenz und Transcendenz die dem Wissen un-
zugängliche, wenn auch wesentliche Substanz der Geschichte sind.
Geschichte als Geschichte des einzelnen Menschen ist der Grund aller Geschicht-
lichkeit. Hier geschieht, was der Mensch als Existenz durch Transcendenz ist und wird.
Was der Mensch als Einzelner, sich verwandelnd, wird aus dem Ursprung, als der er
ewig ist, ist der Kern allen geschichtlichen Bewusstseins. Aus der existentiellen Erfah-
rung gewinnt die Geschichte erst ihre Seele. Der Anblick des Einzelnen zeigt, wenn
auch historische Auffassung zunächst am äusseren Geschehen und an sichtbaren Ta-
ten sich entzündet, den Ursprung und bleibt Gleichnis im Kleinen für das Geschehen
im Grossen, für dessen Auffassung es das Schema gibt.
II. Die Einheit eines abgeschlossenen Totalbildes und die Offenheit des Raumes:
Totalität der Menschheitsgeschichte wird im Bilde verwirklicht durch eine Anschau-
ung, wie sie in biblischem3 Glauben zuerst entworfen, dann saecularisiert bis zu Hegel
und seinen Epigonen die reichste Entfaltung gefunden hat. Es ist ein Anfang (die
Schöpfung als Akt, der Welt und Zeit begründet, als Ereignis, durch das Welt und Ge-
schichte ins Dasein und zugleich in ihre Bewegung treten) und ein Ende (die Ge-
schichte zeigt Abschluss in Vollendung oder Zerstörung im Ende aller Dinge). Es wird
eine Theorie des Grundgeschehens, sei diese übersinnlicher oder immanenter Art, er-
dacht, durch sie das Totalbild als ein notwendiges Ganze[s] in seinen Gliedern und Stu-
fen begriffen.
Totalität bleibt nicht nur angeschaut; sie wird zur Forderung, das Ganze auch durch
Inangriffnehmen des Ganzen zu verwirklichen. Totale Mobilmachung, totaler Staat,
totale Geschichte gehören zusammen in der Grundvoraussetzung einer Verfügbarkeit
des Ganzen. Es verschwindet das substantielle Selbstbewusstsein, der Gehalt in der
Mannigfaltigkeit des miteinander Kämpfenden, des sich in Frage stellenden, dadurch
geistig offenbarenden und schaffenden Wesens.
Totalität, ob theoretisch im Anschauen oder praktisch als Ziel des Handelns ge-
meint, wird im Entwurf zum Irrtum dadurch, dass sie nach Inhalt und Wirkung doch
tatsächlich immer partikular bleibt. Es geschieht eine Verengung des Seinsbewusst-
seins in der Verendlichung, die sich für total hält. Einzelne Kategorien oder einzelne
Zwecke werden verabsolutiert. Der Mensch, statt in der Geschichte als offenem Raum
zu stehen, stellt sich über die Geschichte, sie zu machen, wie der Töpfer seinen Krug,
oder wie Gott die Welt. Dieses falsche Einfangen des Seins im Ganzen macht blind für
das jeweils Übersehene, für das Wirkliche, das vor der Betrachtung ins Unendliche zu-
rückweicht und immer wieder neue Horizonte zeigt, und für das schliesslich Entschei-
dende, das eines Tages alles Gewollte über den Haufen wirft, da es unbemerkt blieb. Es
gibt keinen erkannten Plan der Geschichte, weder einen theoretisch erkennbaren, der

biblischem im Ms. hs. Vdg. für christlichem
 
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