Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0282
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Grundsätze des Philosophierens

279
denz zu reden, ist lächerlich. Ein Glaube wäre unwahrhaftig. Der in der Vergangenheit
geschaffene Geist wird noch seiner Form nach genossen. Man wendet sich dem Frem-
desten zu, kann schleierlos sehen, das Kleinste und Zufälligste plastisch beschreiben,
das Geistige virtuos verstehen. Man kennt noch eine Ergriffenheit als Spiegel des Ver-
schwundenen, aber darf selbst diese Ergriffenheit sich kaum eingestehen. Eine vollen-
dete Kühle ist Grund und Ziel aller Erfahrung.
Aber es ist eine Täuschung, dass in solchem Minimum wirklich und durchhaltend
zu leben sei. Der Umschlag zu einer Erfüllung dieses Negativen zwingt sich wider Wil-
len auf. Daraus erwachsen die Feuerwerke dieser haltlosen Geistigkeit.
Man lernt das »zweigleisige Denken« als Ausweg der Haltung. D.h. man überlässt
sich dem einen und weiss, dass man auch anderswo steht. Man glaubt - »ich glaube es
nicht, aber man muss es glauben« - und gewinnt eine erstaunliche Energie sogar des
Fanatismus aus diesem Glauben, und zugleich verwirft man diesen Glauben, vergisst
ihn für eine Weile und überlässt sich anderen Möglichkeiten. Man lässt sich berühren
von den Realitäten, sich aber von keiner halten. Man ist ganz dabei und ganz fern. Man
ist als man selbst garnicht mehr da. Denn man setzt jeweils eine Rolle in Aktion im
Wissen um das Rollesein. Man hat mehrere Rollen zur Verfügung.
Man lässt aus dem Nichts ein Positives werden. Der Verzicht selber verwandelt sich
in einen scheinbar erfüllten Glauben. So wird aus dem Process der Technik, deren Auf-
gabe es ist, ein rechtes Mittel zu sein und als Mittel recht gebraucht zu werden, ein Ab-
solutes. Eine Verherrlichung des Technischen als eines sich aus sich selber schon Er-
füllenden lässt die Vision einer Technokratie entstehen, sei diese rational zu praktischer
Durchführung erdacht, sei sie als Gestalt und Idee des Menschseins im technischen
Arbeitsdasein entworfen, das jetzt an der Zeit ist.
Man gestattet sich ein mythisches und dämonologisches Denken. In der Öde der
faktisch gesehenen Welt sind die »Mächte«. Man nennt, beschwört sie und glaubt et-
was zu haben, indem man die empirisch gesehenen blossen Realitäten als vermeintli-
chen Schleier herunterreisst von diesen Mächten, die durch sie wirken. Man glaubt
diese Mächte unmittelbar zu sehen, wenn man mythisch von ihnen spricht. Dabei die-
nen die Gestalten vergangenen mythischen Anschauens als Vergleiche oder gar als
Maskerade bei einem scheinbaren Sichzurechtfinden im Gegenwärtigen. Man glaubt
mehr zu haben als die Realität und hat doch nur diese in getrübter Gestalt. So entsteht
eine künstlich gesteigerte Geistigkeit, die einen Augenblick um das Tiefste zu wissen
scheint und doch alsbald in grotesker Geistfremdheit verloren ist.
Alle Weisen dieser Geistigkeit gehen am Rande des Nihilismus. Sie stehen auf dem
Sprunge, zu einem fanatischen Nihilismus zu werden. Dann wird der sich verkehrende
Glaube, der im Nein das Ja, im Nichts das Sein zu ergreifen meint, intolerant gegen al-
les ursprünglich Positive. Die Leidenschaft des Hasses, die unbekümmerte Energie des
Verächtlichmachens, das Pathos eines verzweifelten Unglaubens stellen die hohe In-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften