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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0281
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Grundsätze des Philosophierens

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den Erörterungen bis zu dogmatisch entschiedenen Feststellungen, von unruhigem
Suchen bis zu fanatischer Selbstgewissheit, von verzweifelten Klagen bis zur heiteren
Zufriedenheit, von verzagender Ratlosigkeit bis zu tapferem Verzicht.
Es wäre uferlos, hierüber zu berichten. Als typisch seien drei Richtungen charakte-
risiert:
1. Glaube an immanente Weltvollendung: Mit der stillschweigenden Vorausset-
zung, die Welt sei für den Menschen richtig einzurichten, gelten die Maasstäbe, wel-
che Verstand und guter Wille begreifen, für die absolut richtigen. Nur am Mangel bei-
der, so ist die Meinung, liegt Elend und Unglück der Welt. Beide aber sind zu bessern.
Daran zu arbeiten wird zu einem irdischen Paradies führen, das Phantasten schon in
vorwegnehmenden Konstruktionen entwerfen. Je weniger an Gott geglaubt wird, de-
sto mehr soll das Heil in der Welt für möglich gelten.
Solche Versprechungen konnten glaubenslose Menschenmassen in den Glauben
an eine immanente Vollendung des Daseins bringen. Die Folge aber war, dass die mit
Hilfe solcher Antriebe erreichten Machtbildungen nur grösseres Elend, grössere Zer-
störung bewirkten bei Versagen aller in Aussicht gestellten Verwirklichungen. Dieser
Zusammenhang wurde durch wahnhaftes Schuldgeben an irgendwelche äussere,
nicht beherrschte böse Mächte entschuldigt. Vorher hatte man seitens herrschender
Klassen die in der Welt Armen und Elenden und Schlechtweggekommenen mit der Se-
ligkeit im Jenseits getröstet - religiöse Positionen missbrauchend zur Rechtfertigung
der Verweigerung von Besserungen der Zustände. Jetzt tröstete die Glaubenslosigkeit
damit, dass durch das Opfer der gegenwärtigen Generationen den zukünftigen das
Glück gesichert würde - durch eine Illusion um das Gegenwärtige betrügend.
2. Radikaler Verzicht: Die wachsenden Enttäuschungen der modernen Welt lassen,
im Trotz gegen die Atmosphäre allgemeiner Unwahrhaftigkeit, die Redlichkeit eines
radikalen Verzichts entstehen. Man will sehen, was ist, will nichts erwarten, vielmehr
der glücklosen Welt und dem Entsetzlichen ins Auge schauen. Man verleugnet alle
überlieferten Gehalte, erkennt sie als wahr nur für eine Vergangenheit an, derer man
sich ohne Anknüpfungswillen als eines Fremdgewordenen allenfalls romantisch erin-
nern mag.
Die Redlichkeit des Verzichts bewahrt ihren Halt in einem Minimum, in einer blos-
sen Haltung. Das Ertragenkönnen als solches gilt. Wie man etwas tut, nicht was man
tut, ist wesentlich. Diese Haltung liegt schon an der Grenze des Nihilismus. Die Grenze
zum Nihilismus ist überschritten, wenn etwa in der Kunst der Gegenstand gleichgil-
tig und die Form alles sein soll, wenn im Kriege gleichgiltig wird, wer siegt, wenn der
Tod keine Beachtung mehr verdient, sondern nur die Angstlosigkeit Wert hat, wenn
kein Zweck und kein Ziel antreiben, sondern Disciplin als solche gilt.
Man darf fast von einer typisch modernen Geistigkeit reden, die ein sublimiertes
Leben aus dem Verzicht vollzieht. Es gibt für sie keine grossen Worte. Von Transcen-
 
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