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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0299
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Grundsätze des Philosophierens

digen Individuen. Versucht man die Gemeinschaft selber als ein Ganzes zu erfassen,
so denkt man sie als eine Lebenseinheit und erklärt ihr Leben, wie man einen Organis-
mus erklärt. Gegen die Wirklichkeit dieser Lebenseinheit jedoch spricht: Nur was leib-
lich da ist, ist wirklich. Ein Leib aber, der viele Individuen eint, ist nicht da. Es gibt kei-
nen Körper der Gemeinschaft. Es ist nur das Miteinander3 von Individuen ohne neue
Leibesbildung. Denn, was Menschen hervorbringen an Gebäuden, Verkehrsmitteln,
Kunstwerken[,] ist im toten Material und ist nur für die lebendigen einzelnen Men-
schen selber ein Mittel dieses Lebens. Daher ist das Ganze des Lebens der Vielen in der
Gesamtheit seiner handgreiflichen Objektivierungen nicht selber ein Leib, der als Leib
erforschbar wäre wie organisches Leben; vielmehr kann es immer nur ein Vergleich
sein, wenn dieses Ganze als Leben aufgefasst wird, bei dem zu fragen ist, wo dieser Ver-
gleich zutrifft und wo er fehl geht.
Nun gibt es organische Gemeinschaften, die Tierstaaten und die Lebenseinheiten
von Seen, Wäldern, Wiesen, denen die Arten und Individuen als Glieder angehören.
Diese Gemeinschaften sind grundsätzlich anders als menschliche Gesellschaften und
Staaten. »Tierstaaten« sind leiblich im Bau der Individuen und ihren durch alle Gene-
rationen gleichen instinktgegründetenb Bildungen; sie kehren automatisch als immer
dasselbe in der Folge der Generationen wieder, sind relativ geschlossen und ohne Ge-
schichte. Mit diesen Gemeinschaften ist sowenig eine Identificierung der menschli-
chen Gemeinschaft möglich wie mit dem leiblichen Einzelorganismus. Der Vergleich
zeigt gerade die grundsätzliche Andersartigkeit im Ursprung.
Scheint nun auch das Lebendige stets als ein einzelner geschlossener Körper, die
organische Welt als eine endlose Menge von Individuen, so ist doch schon das Ganze
des Lebendigen mehr als ein blosses Nacheinander zahlloser in der Generationenfolge
sich wiederholender Individuen verschiedener Art. Dieses mehr zeigt sich in den
durchgehenden morphologischen Beziehungen der Gestalten zueinander, ferner in
der aus blosser Daseinserhaltung, aus Nutzen und Zweck unbegreiflichen Gestalten-
fülle, ferner in dem zeitlichen Process der Gestaltenfolge, dessen zerstreute Dokumente
in den paläontologischen Funden vorliegen, ferner in dem Strom der Vererbung, des-
sen sich verwandelnde Bewegung in den Mutationen ihre Schritte tut. Kurz: Das Le-
bendige ist ungeschlossen, sein woher und wohin unerfassbar; es gibt das Umgreifende
lebendigen Daseins.
Ebenso ist die Menschheit und jede ihrer Gemeinschaften auch eine Menge von
Individuen. Sie ist selber ein Teil der organischen Welt, einbezogen in das Umgreifende
lebendigen Daseins. Diese Einbezogenheit ist zeitlich unermesslich gegenüber den
Jahrtausenden unserer Geschichte. Diese Geschichte und die sie tragenden mensch-

a Miteinander nach der Abschrift Gertrud Jaspers statt miteinander im Ms.
b stattinstinktgegründeten im Ms. und in der Abschrift Gertrud Jaspers Instinkten gegründeten
 
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