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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0298
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Grundsätze des Philosophierens 295
b. Partikulare und totale Auffassung
Unter allen Gegensätzen der Auffassung ist dieser der folgenreichste, obgleich es zu-
nächst nur logisch anmutet. Überall im Auffassen des Seienden haben wir die Neigung,
das Ganze als Gegenstand vor Augen zu stellen, es so zu überblicken und zu beherr-
schen. Das Bewusstsein des Umgreifenden hebt diesen Irrtum auf. Nur im Seienden
fassen wir Gegenstände auf, nicht das Seiende als Gegenstand.
Auch im Politischen geschieht diese Verkehrung des Umgreifenden zu einem Ge-
genstand, der das Ganze sein soll. Dann glaubt man mit einem Schlage die eigentliche
Realität zu haben. Wenn man aber so inbezug auf ein Nichterfassbares als ein ver-
meintlich Erfasstes handelt, versäumt man das Mögliche und bewirkt ungeahntes Un-
heil. Man greift ins Leere einer falschen Grossartigkeit des Ganzen, während man das
Gegenwärtige und Erreichbare zerstört.
Unser Denken ist nun so eingerichtet, dass es natürlicherweise diesen Irrweg be-
schreitet, wenn es nicht sich selber kritisch führt und begrenzt. Wie das Partikulare
und das Totale gedacht, unterschieden oder vermischt, wie beide zu einander in Be-
ziehung gesetzt werden, in diesen Formen des Grundwissens spricht sich zugleich eine
auf das Bestimmte gerichtete Realitätsgesinnung und ein im Umgreifenden gegründe-
tes Seinsbewusstsein aus. Beide bewirken auch die Weise des konkreten Wissens von
der Gemeinschaft und das Verhalten in ihr.
aa. Totalbild des Geschehens
Das Totalbild, das wir uns von Gemeinschaft und Geschichte machen, ist ein Rahmen,
in dem der Sinn des politischen Tuns gefasst wird. Es ist daher garnicht gleichgültig,
ob überhaupt ein Totalbild und welches als mehr oder weniger selbstverständlich gilt.
Die Totalbilder sind an einige immer wiederkehrende Kategorien gebunden.
1. Entstehung der Totalbilder durch Vergleich: Diese Bilder werden jeweils möglich
durch Herbeiziehung eines an sich Fremden als Vergleich, der unwillkürlich zur Iden-
tificierung führt. So wird der geschichtliche Zustand und Ablauf vorgestellt nach Ana-
logie des Lebens mit seinen Altersphasen (als unabänderlichen Verlaufsgesetzen), oder
nach Analogie des freien Aufschwungs, des Selbstüberwindens, der geistigen und see-
lischen Entfaltung in einzelnen Menschen (als Freiheit). Die Vergleiche sind Übertra-
gungen entweder von partikularen Vorgängen in der Welt (organisches Leben) oder
von Weisen der Freiheit auf das umgreifende Ganze des Geschehens.
Totalbilder aus dem Vergleich mit dem organischen Leben: Die Gemeinschaft wird
mit einem Organismus verglichen. Organologische Bilder sind in allen Socialwissen-
schaften geläufig. Wo sie sich zu organologischen Theorien verfestigen, werden sie als-
bald bekämpft. Prüfen wir diesen Vergleich.
Versucht man, die Gebilde der Gemeinschaft aus der Wechselwirkung der Indivi-
duen zu erklären, dann ist der Grund und der Gipfel der Realität der Leib dieser leben-
 
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