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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0381
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Grundsätze des Philosophierens

tum, auch wenn Millionen ihn teilen, auch wenn er Jahrtausende dauert. Aber etwas
anderes ist es z.B. mit Bildern und Symbolen. Sie sind allein durch Überlieferung. Sie
tragen in sich die Tiefe des geschichtlich Unergründlichen, der Herkunft aus der Vor-
zeit. Sie gelten durch ihr Alter. Sie verwandeln sich zwar unmerklich in dem Sinn ih-
res Gehalts, sie erfüllen sich und verarmen, sie bezwingen oder werden neutral, sie sind
hinreissend und dann wieder indifferent. Aber sie sind eine unersetzliche Weise, in
der Welt des Seins ohne Absicht und ohne Wissen inne zu werden. Autorität liegt in
der Tradition als geschichtlicher Gestalt, nicht als Überlieferung allgemeinen Wissens.
Der geschichtliche Grund erscheint aus der Realität der Überlieferung drittens als
Glaubensgehalt, der ein bewusster Anspruch ist: Gebote sollen befolgt, das Dasein von
Göttern oder Gottes in bestimmter Gestalt geglaubt, Instanzen in der Welt als führend
und entscheidend anerkannt werden. Während die beiden ersten Weisen des Autori-
tativen für den Verstand im Unbestimmten bleiben, nur faktisch gelten und keiner Ge-
walt bedürfen als nur der unbewussten, allerdings allbezwingenden der gesellschaft-
lichen Folgen für jeden, der die Autorität verletzt (wie etwa in den Zuständen infolge
des indischen Kastenlebens mit ihrer metaphysischen Anschauung), wird in dieser
dritten Weise die Autorität bestimmt durch Amt, Person, Statuten.
Aber der geschichtliche Grund umfasst mehr als das, was aus der Realität der Zustände
durch Tradition in der Autorität zum bestimmten, durch politische und kirchliche Macht
unterstützten Anspruch wird. Der geschichtlich gegründete Anspruch ist eine unerläs-
sliche Führung. Ohne Autorität ist kein kontinuierlicher Gang der menschlichen Dinge,
keine durch Glauben erfüllte Ordnung. Daher der Drang zur Geschichte, das Halten an
dem geschichtlichen Grunde, die existentielle Angst vor dem Bodenlosen.
Die Geschichtlichkeit aller Autorität bringt dieser den gemeinsamen Zug, nicht ein
Allgemeines als Allgemeingiltiges zu sein wie Gegenstände der wissenschaftlichen Er-
kenntnis und der Technik. Als solche Allgemeingiltigkeit könnte die Autorität vom
Verstände zureichend gewusst und erkannt werden, wäre für alle Menschen nur eine.
Aber Autorität als der geschichtliche Grund, aus dem Menschen leben, ist zunächst
ein mehrfacher (wenn auch jeder in objektiv fixierter Gestalt unzureichend bestimmt
ist). Daher begegnen sich in der Welt mehrere Autoritäten, jede absolut und unbe-
dingt, und keine allgemeingiltig. Jede Autorität als geschichtliche Erscheinung ist in-
dividuell und zugleich unerschöpflich für den erhellenden Gedanken.
Ob über die Vielfachheit der erscheinenden Autorität hinaus ein allumfassender
geschichtlicher Grund des Menschseins vorliegt, eine Autorität für alle Menschen, die
sie in der Tiefe ihrer Herkunft gemeinsam entdecken, und auf die gegründet zu sein
das eigentliche Leben bedeutet, ist zwar eine metaphysisch bezwingende Gewissheit,
aber in bestimmter Fassung ist diese Autorität nicht da. Auf sie zu stossen, sie zu erhel-
len, in ihr sich aus umfassender Gemeinschaft zu finden, das wäre gleichsam der Auf-
gang der Sonne für den Welttag des Menschen.
 
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