Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0425
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
422

Grundsätze des Philosophierens

sondern als Gehorsam gegen Gott möglich ist, oder der Drang zum Mittler zwischen
dem verborgenen, fernen Gott und der Seelea. Als ein Mensch erscheint und spricht,
was Gott selber ist. Auf diese Erscheinung drängen historisch eine Reihe besonderer
Motive:
Es ist ein universales Phaenomen, dass Menschen einen einzelnen Menschen
schwärmerisch verehren, ihn zum Übermenschlichen steigern, in ihm das oder ein
Ideal des Menschseins verwirklicht sehen. Sie sind geneigt, sich ihm blindlings zu un-
terwerfen, in der Berührung mit ihm die Berührung mit einem Numinosen zu spüren,
von ihm Wunder zu erwarten. Es ist psychologisch etwas Analoges zwischen inhalt-
lich Heterogenem: Filmstare müssen incognito reisen, wenn sie nicht von den Massen
erdrückt werden wollen. Gandhi muss sich planmässig vor den »Darshan-Suchern«
schützen (Darshan heisst Anblick eines Heiligen).309 Könige vollzogen in früheren Jahr-
hunderten, wo immer sie sich dem Volke zeigten, Krankenheilungen.
Die Vergötterung wirkt auf den Vergötterten zurück: die Menschen quälen den von
ihnen als Heiligen angeschauten, dass er sich verhalten muss, wie es dem Ideal ent-
spricht, sie erwarten von ihm, dass er sich fügt, sie zeigen ihn gleichsam vor, und er
muss da sein. Es ist eine Gier der Massen nach Menschenkult. Es ist, als ob eine Beruhi-
gung wäre, wenn der einzig Vergötterte irgendwo sitzt, wie der Bienenschwarm durch
die Königin in Ordnung bleibt.
Die sichtbarste Gestalt menschlicher Gewalt sind Herrscher und Heerführer. Eigen-
wille und durchschnittliche Zügellosigkeit der Menschen, ihre halb tyrannische13, halb
lässige Artung führt zur Erscheinung des Tyrannen, der sie alle vergewaltigt. Wer nicht
aus Freiheit dem Gesetz des Guten und Wahren gehorcht, verfällt dem Zwang zum Ge-
horsam gegen äussere Gewalt. Nun geschieht das Erstaunliche. Der Tyrann, dieses Werk-
zeug des Bösen zur Züchtigung des Bösen, wird Gegenstand der Vergötterung. Alexan-
der, Caesar, Napoleon und zahlreiche andere gehen als täuschende Idealbilder, als Idole
durch die Geschichte.0 Schon zu Lebzeiten werden sie gesteigert, sei es[,] dass sie selber
sich für Gott oder Gottes Sohn erklären, sei es [,] dass sie sich gefallen lassen und als Herr-
schaftsmittel benutzen, was die Menge begehrt. Die Tyrannen werden Götter. Alexan-
der wurde Gottes Sohn, die römischen Gottkaiser verwirklichten dieses Schema bis zum
staatlich gebotenen Kultus ihres numen. Wird dieser Aberglaube verworfen, so bleiben
doch zumeist noch unbegreifliche Huldigungen, wahrheitswidrige Verherrlichungen
des Übermenschen, Menschenidole als Gegenstand weltlicher Verehrung. Jedoch der

a Drang zum Mittler zwischen dem verborgenen, fernen Gott und der Seele im Vorlesungs-Ms.
1945/46 hs. Vdg. zu Drang zur leibhaftigen Nähe des verborgenen, fernen Gottes
b tyrannische im Vorlesungs-Ms. 1945/46 Vdg. zu gewaltsame
c nach Geschichte, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 Einf. Es sind in der Tat ausserordentliche Menschen
durch tigerhafte Energie, Geistesgegenwärtigkeit, Instinkt für reale Kräfte, Gedächtnis, Arbeits-
kraft, Treffsicherheit für die Sprache von Herrschaft und Macht.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften