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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0464
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Grundsätze des Philosophierens

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Stellt man die Frage, ob denn nur das Niedrigere und dazu die Unwahrheit zur Füh-
rung und Strukturierung des Menschenlebens in der Masse geeignet sei, so wird man
trotz der Tatsache, dass es in den meisten Fällen so zu sein scheint, dies nicht als not-
wendig erkennen wollen und auch nicht müssen. Schon die historische Tatsächlich-
keit kennt Gegeninstanzen. Es besteht die unantastbare Höhe dessen, was im Mittel-
alter aus dem handgreiflichen Glauben erwachsen ist. Man kann versucht sein, zu
fragen, ob nicht im »Primitiven« das Grösste entstehe, vielleicht nur auf der Scheide
der Zeiten, wo jenes Primitive sich auflöst, während es gerade noch trägt (griechische
Tragödie, Michelangelo, Rembrandt, Shakespeare). Weiter führt die Erwägung, dass
vielleicht eine »Enge des Bewusstseins«, wenn sie nicht absichtlich, sondern aus dem
Wesen besteht, Bedingung der Kraft und Tiefe des Entschlossenseins im Leben sein
könne.348 Schliesslich ist es vielleicht gerade das specifisch Religiöse, das (als Gegenpol
des Philosophierens unlösbar mit diesem, solange es substantiell ist, verbunden) zur
Massenführung ohne Unwahrheit sich auswirken kann.
Dieses specifisch Religiöse scheint aus den Tiefen der Vorgeschichte zu uns zu kom-
men. In religionsgeschichtlicher Betrachtung kann man sagen, dass eine Unterschicht
»primitiver« Religion bis heute alle kirchlichen Religionen trage, ja in der Menge beherr-
sche, kann man mit Recht z.B. vom »Heidentum« in der katholischen Kirche und in den
Riten und magischen Handlungen des Judentums sprechen. Aber dieses Primitive birgt
vielleicht gerade die wesentliche religiöse Wahrheit, ist nur äusserlich primitiv, trägt in-
nerlich die ewige Religion selber. Im geschichtlichen Rückblick kann man darum gerade
umgekehrt den Grund der Religion vor aller Geschichte suchen. Die Geschichte wird
zur Formgebung, Entfaltung, Verwandlung dieses Grundes, der dauernd die eigentliche
Substanz bleibt. Religionsgeschichtliche Entlarvung und romantisch phantasierende
Tiefenschau müssen aber beide enttäuschen. Man begreift auf diesen Wegen nicht den
religiösen Grund. Nur negativ kann man sehen, dass die Achsenzeit der Weltgeschichte
zwar fast alles begründet hat, woraus wir leben, nicht aber die Religion. Ihre religiösen
Schöpfungen haben in ihren Gipfeln die Religion fast verschwinden lassen zugunsten
philosophischen Glaubens (wie in den Höhepunkten der Religion der Propheten mit ih-
rer Verwerfung des Kultus, ihrem unmittelbaren Gottesglauben und ihrem reinen Ethos,
und wie im ursprünglichen Buddhismus). Die Achsenzeit brachte in China, Indien und
dem Abendland auch die Mystik, die ein Aufschwung des je Einzelnen, ihrer Natur nach
philosophisch, sociologisch ohne gestaltbildende Kraft ist, aber von den religiösen Ge-
meinschaftsstiftungen eingegliedert wird, ohne selbst specifisch religiös zu sein.
In der Masse fordert nicht nur der Durchschnitt, das Nivellierte, das alle meinen,
der sogenannte gesunde Menschenverstand, auch nicht nur die elementaren Triebe,
das tiefste Niveau des Menschen, in dem alle gemeinschaftlich sich finden, sondern
man darf fragen, ob nicht auch eine unbewusste übergreifende Weisheit hier spreche,
derart[,] dass der Mensch im Ganzen der Völker sogar einmal klüger und unbeirrbarer
 
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