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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0469
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Grundsätze des Philosophierens

Aber solche Forderungen sind nur erfüllbar für den Menschen, der die Gefahren
ihres Weges kennt und ihnen nicht erliegt, und auch dann nur erfüllbar in dem ech-
ten Scheitern unserer Endlichkeit.
Die bildlose Gegenwart entgleitet zumeist in unwirksame Stimmung. Ein verschwe-
bendes Gefühl lässt nichts mehr übrig von der bezwingenden Kraft der Transcendenz
der bildlosen Gottheit, ohne Kult und ohne Gemeinschaft, überwältigend wie bei Je-
saias. - Die Verwandlung der heiligen Realitäten in blosse Sprache hat zumeist zur
Folge, dass nunmehr dies alles als blosse Illusion empfunden wird. Als Spiel der Phan-
tasie büsst diese Sprache ihre Wirkungskraft ein. - Nur Offenbarung als bestimmte
Greifbarkeit, nicht die universale Offenbarungsmöglichkeit in der Selbstüberzeugung
des Einzelnen scheint die Mehrzahl der Menschen zu bezwingen. Wenn das so ist, so
besteht das Recht zur Loslösung von der Offenbarung nur für Menschen, in denen die
Wirklichkeit der Sprache Gottes, wo immer sie hörbar wird, oder die Kraft der Überlie-
ferung der hohen menschlichen Möglichkeiten wirksamer ist und sich mehr bewährt
als die Bindung an das specifisch abgegrenzte Heilige. Dieses letztere bleibt aber dann
noch Sache des Schutzes und des Respekts im Interesse aller, ohne für den philosophi-
schen Menschen mehr zu bedeuten als ein Symbol unter anderen.
Und schliesslich sind alle Ansprüche des Einzelnen nicht als die allein wahren an-
zuerkennen. Er darf ihnen folgen nur im ständigen Hinblick auf die Ansprüche der
Masse, die in ihm selber lebendig bleiben, wenn er ein ganzer Mensch ist.
f. Vorwürfe gegen Religion.350 - Seit dem Altertum ist die Religion immer wieder
schlechthin verworfen worden. Wir zählen eine Reihe typischer Vorwürfe auf und ver-
suchen, kritisch einen jeden in seine Grenze zu weisen.
a) »Die vielen Religionen beweisen, dass keine wahr ist. Denn die Wahrheit ist nur
eine.«
Dieser Vorwurf besteht nur, wenn Glaubensaussagen wie Wissensinhalte behan-
delt werden, nicht aber für den religiösen Glauben selbst. Dieser hat seine geschicht-
liche Erscheinung, sein Ausdruck darf nicht mit dem Gehalt des Glaubenslebens ver-
wechselt werden, der in ihm spricht: Una religio in rituum varietate (Cusanus).351
b) »Die Religionen haben bisher jedes Übel sanktioniert, das Entsetzlichste tun oder
rechtfertigen können, Gewalttat und Lüge, Menschenopfer, Kreuzzüge, Religions-
kriege.«
Über Heil und Unheil der Wirkung von Religionen lässt sich schwer eine Bilanz zie-
hen. Jedem Werturteil muss eine historische Tatbestandforschung zugrundeliegen.
Der Vorwurf zeigt sich als gerechtfertigt, muss aber ergänzt werden durch die Feststel-
lung der ausserordentlich heilsamen Wirkungen der Religionen, der Vertiefung der
Seele, der Ordnung der menschlichen Dinge, der Fürsorgetätigkeit grossen Stils, der
Gehaltgebung von Kunst und Denken.
 
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