Grundsätze des Philosophierens
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Wenna die These aufgestellt wird, gute Beziehungen zwischen Menschen, Friede
und Ordnung seien eher durch Vernunft als durch Religion zu verwirklichen; Gerech-
tigkeit wirke mehr als Glaube, praktische Sittlichkeit mehr als religiöses Bekenntnis;
was an Gutem in der Menschenwelt verwirklicht sei, sei Werk von Wissenschaft und
Vernunft, nicht von Religion, - so muss erwidert werden, dass Religion die Vernunft
ja nicht ausschliesse, und dass bisher Religion in der Tat die allermeiste haltbare und
gehaltvolle Ordnung, und zwar dann mit Hilfe der Vernunft verwirklicht habeb. Dage-
gen sei der Versuch, sich allein auf Vernunft zu gründen, nach bisheriger historischer
Erfahrung schnell von nihilistischem Chaos gefolgt.
c) »Die Religion bewirkt falsche Ängste. Illusionen quälen die Seele. Die Foltern der
Hölle, der Zorn Gottes, die unbegreifliche Wirklichkeit eines erbarmungslosen Wil-
lens und dergleichen bewirken das Entsetzen, zumal auf dem Sterbebett. Die Befreiung
von der Religion bedeutet Ruhe, weil sie Befreiung von Täuschungen ist.«
Dieser Vorwurf ist richtig, sofern die concreten abergläubischen Inhalte gemeint
werden. Er wird falsch, wenn der Gehalt der Angst selber getroffen werden soll. Wenn
die Höllenangst für unzählige Seelen Grund zur Wahl des Guten gegen das Böse gewe-
sen ist, so ist diese Angst wohl nur selten nichts als Angst vor einer vermeintlichen Rea-
lität. Sie kann vielmehr in der Chiffre der Höllenvorstellung tiefe existentielle Motive
der Wahl des eigentlichen Wesens sich verständlich machen.0 Die Ruhe, die aus einem
Nein gegen die Hölle kommt, genügt nicht, sie muss einem positiven Vertrauen ent-
springen, einer Grundverfassung der Seele, welche dem guten Willen folgte.
d) »Die Religionen züchten eine alldurchdringende Unwahrhaftigkeit. Weil sie das
Unbegriffene, die Gedankenlosigkeit, das Absurde an den Anfang setzen/ der Frage
entziehen, schaffen sie eine Grundstimmung dumpfen Gehorsams. Wo die Frage sich
regt,§ vergewaltigt man den eigenen Verstand und hält diese Unredlichkeit für ein Ver-
dienst. Die Gewohnheit des Nichtweiterfragens erleichtert die Unwahrhaftigkeit auch
überall sonst. Man übersieht die Widersprüche in den Consequenzen,11 im eigenen Ver-
halten. Man lässt Verkehrungen des ursprünglich Wahren zu, weil man sie nicht be-
merkt. Religiöser Glaube und Unwahrhaftigkeit haben eine Affinität.«
a nach Wenn im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. gar
b nach habe im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. , nicht durch direkte Anweisungen, sondern durch
glaubende Menschen, deren Ernst und Verlässlichkeit
c statt bedeutet im Ms. sowie in den Abschriften Gertrud Jaspers, A. F. und Schott bedeute
d nach machen, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. Die Angst um das eigentliche Sein ist ein Grund-
zug des erwachten Menschen.
e nach folgt im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. , der immer wieder die Angst überwindet. Wo die
Angst verschwindet, ist der Mensch nur noch oberflächlich
f nach setzen, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. es
g Wo die Frage sich regt, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu Wo etwa die Frage sich regt, da
h in den Consequenzen, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu im Denken und
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Wenna die These aufgestellt wird, gute Beziehungen zwischen Menschen, Friede
und Ordnung seien eher durch Vernunft als durch Religion zu verwirklichen; Gerech-
tigkeit wirke mehr als Glaube, praktische Sittlichkeit mehr als religiöses Bekenntnis;
was an Gutem in der Menschenwelt verwirklicht sei, sei Werk von Wissenschaft und
Vernunft, nicht von Religion, - so muss erwidert werden, dass Religion die Vernunft
ja nicht ausschliesse, und dass bisher Religion in der Tat die allermeiste haltbare und
gehaltvolle Ordnung, und zwar dann mit Hilfe der Vernunft verwirklicht habeb. Dage-
gen sei der Versuch, sich allein auf Vernunft zu gründen, nach bisheriger historischer
Erfahrung schnell von nihilistischem Chaos gefolgt.
c) »Die Religion bewirkt falsche Ängste. Illusionen quälen die Seele. Die Foltern der
Hölle, der Zorn Gottes, die unbegreifliche Wirklichkeit eines erbarmungslosen Wil-
lens und dergleichen bewirken das Entsetzen, zumal auf dem Sterbebett. Die Befreiung
von der Religion bedeutet Ruhe, weil sie Befreiung von Täuschungen ist.«
Dieser Vorwurf ist richtig, sofern die concreten abergläubischen Inhalte gemeint
werden. Er wird falsch, wenn der Gehalt der Angst selber getroffen werden soll. Wenn
die Höllenangst für unzählige Seelen Grund zur Wahl des Guten gegen das Böse gewe-
sen ist, so ist diese Angst wohl nur selten nichts als Angst vor einer vermeintlichen Rea-
lität. Sie kann vielmehr in der Chiffre der Höllenvorstellung tiefe existentielle Motive
der Wahl des eigentlichen Wesens sich verständlich machen.0 Die Ruhe, die aus einem
Nein gegen die Hölle kommt, genügt nicht, sie muss einem positiven Vertrauen ent-
springen, einer Grundverfassung der Seele, welche dem guten Willen folgte.
d) »Die Religionen züchten eine alldurchdringende Unwahrhaftigkeit. Weil sie das
Unbegriffene, die Gedankenlosigkeit, das Absurde an den Anfang setzen/ der Frage
entziehen, schaffen sie eine Grundstimmung dumpfen Gehorsams. Wo die Frage sich
regt,§ vergewaltigt man den eigenen Verstand und hält diese Unredlichkeit für ein Ver-
dienst. Die Gewohnheit des Nichtweiterfragens erleichtert die Unwahrhaftigkeit auch
überall sonst. Man übersieht die Widersprüche in den Consequenzen,11 im eigenen Ver-
halten. Man lässt Verkehrungen des ursprünglich Wahren zu, weil man sie nicht be-
merkt. Religiöser Glaube und Unwahrhaftigkeit haben eine Affinität.«
a nach Wenn im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. gar
b nach habe im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. , nicht durch direkte Anweisungen, sondern durch
glaubende Menschen, deren Ernst und Verlässlichkeit
c statt bedeutet im Ms. sowie in den Abschriften Gertrud Jaspers, A. F. und Schott bedeute
d nach machen, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. Die Angst um das eigentliche Sein ist ein Grund-
zug des erwachten Menschen.
e nach folgt im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. , der immer wieder die Angst überwindet. Wo die
Angst verschwindet, ist der Mensch nur noch oberflächlich
f nach setzen, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. es
g Wo die Frage sich regt, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu Wo etwa die Frage sich regt, da
h in den Consequenzen, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu im Denken und