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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0471
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Grundsätze des Philosophierens

Gegen diesen Vorwurf ist nur zu sagen, dass im Ursprung der Religion nicht zu sein
braucht, was in ihrer Entfaltung auftritt. Wenn auch nach J. Burckhardt das Mass der
Kritiklosigkeit bei den religiös schöpferischen Menschen von uns kaum verstanden
werden kann,352 so ist doch darin nicht notwendig Unwahrhaftigkeit. Grenzen und
Rätsel, die der Verstand sich zu verbergen geneigt ist, werden religiös unmittelbar ge-
genwärtig, wenn auch in mythischer Gestalt mit der Tendenz, sofort jene abergläubi-
schen Inhalte zu werden.
Unwahrhaftigkeiten in Religionen sind leicht aufzuzählen. Ein Beispiel ist sogar
ein Typus des grossartigsten Menschentums, das in China, Indien und dem Abend-
lande aufgetreten ist, der Heilige.
Was der Heilige sein soll, ist in der Tat für den Menschen in der Welt unmöglich.
Auch der Heilige muss Daseinsbedingungen ergreifen, um am Leben zu bleiben. Er
kann im letzten Grunde wahrhaftig nur dann sein, wenn er sich darüber klar ist, dass
er durch Teilnahme am Dasein die Mitschuld übernimmt für das, was geschieht, um
es zu behaupten, oder wenn er sich über keine seiner Daseinsbedingungen, Motive und
Wirkungen ihrer Art nach täuscht. Der wahrhaftige Heilige kann sich selber nie für
heilig halten.
Er täuscht sich dann erstens dadurch, dass er lebt von dem, was andere ihm geben
oder gegeben haben. Er täuscht sich zweitens dadurch, dass er dabeisteht, wenn das
Böse geschieht. In beiden Fällen nimmt er auf sich, was Schuld des Menschen ist. So
wird er mitverantwortlich für die Realitäten, ohne die die Nahrung nicht zu beschaf-
fen, das Dasein nicht zu erhalten ist. Und er ist in der menschlichen Solidarität auch
mit verantwortlich für das, was andere tun, wenn er nicht bis zur Hingabe seines Le-
bens getan hat, was er kann, um das Böse zu verhindern (geschieht z.B. im Raum des-
sen, was mir wahrnehmbar wird, ein ungerechter Mord, so muss ich - wenn ich ohne
Schuld bleiben will - entweder durch Versuch seiner Verhinderung mitsterben oder in
einfacher Ohnmacht mitsterben oder nach geschehenem Unheil durch Anklage auch
meinen Tod bewirken - alle zweckhaften Begründungen aus Erfolg und Wirkungsmög-
lichkeit werden an den Grenzen des Daseins hinfällig.)
Eine Täuschung ist es, wenn der Heilige lebt durch günstige Lebensbedingungen,
die deren letzte Voraussetzungen verbergen, sodass scheinbar eine Weile reine Mensch-
lichkeit, Milde und Güte möglich werden. Die Beteiligten durchschauen nicht die Be-
dingungen ihres Daseins, halten für dauernd, was selten und vorübergehend ist, und
was keiner eigentlichen Bewährungsprobe unterworfen wird. Eine Täuschung des Hei-
ligen ist es, wenn er nicht bemerkt, dass seine günstigen Lebensbedingungen etwa da-
durch entstehen, dass in seiner Welt ein asketisches Dasein Gegenstand der Bewunde-
rung, Verehrung, Heiligung und darum der Pflege durch die anderen ist, welche sie aus
bestimmten Religionen heraus vollziehen. Unter anderen Bedingungen wäre ein Le-
ben des Heiligen der Weg zu schnellem Untergang, ein indirekter Selbstmord.
 
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