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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0475
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Grundsätze des Philosophierens

gespalten durch bleibende Schismen. Einzelne Machtorganisationen haben aus ihrem
Horizont Haeresien verworfen und Ketzer vernichtet. Aber kein Unbefangener ver-
kennt die überwältigende Wahrheit in den verworfenen Gehalten der Ketzerge-
schichte. Man steht verwundert vor dem Grundphaenomen, dass die meisten christ-
lichen Kirchen und Konfessionen - nicht alle - auf die Absolutheit ihrer Wahrheit
gegen die Teilwahrheit oder Unwahrheit der anderen bauen, am consequentesten und
erfolgreichsten die katholische Kirche.
b. Der Christusglaube. - Es hat reine, liebende, duldende, für ihre Sache sterbende
Menschen in der Geschichte gegeben. Jesus hat zu ihnen gehört. Der Respekt vor dem
Menschen Jesus aber ist noch nicht die Spur dessen, was Christusglaube heisst. Dieser
Glaube sagt: Gott ist Mensch geworden in Jesus und nur in Jesus. Gott wurde Fleisch,
um in Knechtsgestalt zu leiden zum Heil des von der Sünde zu reinigenden Menschen.
Der Inhalt dieses Glaubens ist ein Mythus: Die Auferstehung des Gekreuzigten am
dritten Tage; die Bedeutung dieser Auferstehung für die Erlösung des sündigen Men-
schen; die Wirklichkeit Jesu Christi als Gottes Sohn, nicht geschaffen, sondern von
Ewigkeit bei Gott, Gott selber.354
Die in Christus geschehene Offenbarung ist ein Heilsgeschehen. Es wird verkün-
det durch das Wort des Evangeliums. Als übersinnliche Gnade wirkt das Heil im Glau-
benden. Die christologische Dogmatik macht Aussagen über den Gottmenschen, über
den ungeschaffenen Logos, der Fleisch wurde, über dies objektive Geschehen, das den
Glaubenden rettet. Der Glaubende hat im glaubenden Wissen die Garantie seiner Ret-
tung. Das ist die Entwickelung des Mythus.
Man darf versuchen [,] darüber hinaus den »Christusgeist« zu verstehen, aus dem
dieser Glaube lebt. Von ihm lässt sich auf vielfache Weise reden.355
Der Christusgeist ist das Pneuma, der Geist eines Enthusiasmus, der mit Sinn und
Wirklichkeit das Übersinnliche erfüllt. Er ist ein Ganzes von Bewegung, Aufschwung,
Erfahrung der Seele, die in Betroffenheit von der in ihr selber gegenwärtigen Transcen-
denz ihr Leben zu führen vermag.
Der Christusgeist ist die Offenheit für das Leiden als den Weg zur Transcendenz.
Das Kreuz ist der Mythus, in dem die Grundwirklichkeit des Ewigen in der Zeit ange-
schaut wird. Es ist nicht mehr das einmalige Heilsgeschehen, sondern Symbol jeder-
zeit gegenwärtiger Wirklichkeit. Durch das Kreuz geschieht die Vergewisserung des Ei-
gentlichen im Scheitern.
Der Christusgeist ist die Bindung an die von Gott geschenkte (von Augustin ver-
worfene) nobilitas ingenita, der ich folge oder die ich verrate.356 Diese Wahrheit kann
man nennen die Gegenwärtigkeit des Göttlichen im Menschen. Im Menschen in sei-
ner Geschichtlichkeit wirkt Gott. Jeder Mensch ist in diesem Sinne Christus.
Der Glaube an Christus ist in jedem Falle Erfassen des rettenden Christus äusser mir
durch Verwirklichung des Christus in mir. Der Christus äusser mir ist nur als Mythus
 
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