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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0504
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Grundsätze des Philosophierens

501

tige Erfahrung eines nächtlichen Dämonskampfes als inneres Ringen mit Gott verstan-
den in dem Wort an Gott: ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Oder die Grundlage des Verstehens ist die Absicht, den ursprünglich gemeinten
Sinn des Textes seitens dessen, der ihn schrieb oder zuerst gesprochen hat[,] zu finden.
Dann sind vergleichende Untersuchungen, Festhalten am genauen Wortsinn, histo-
rische Vergegenwärtigungen notwendig. Man fragt, von wem und für wen und in wel-
cher Lage gesprochen wurde. Zum Beispiel: Jahwes Antwort auf die Frage nach seinem
Namen: ich bin, der ich bin,421 ist Ausweichen vor eigenem möglichen Namenszauber,
das Wort ist aber geeignet, einen ganz anderen tiefen Sinn zu ermöglichen, der mit Na-
men und Magie nichts mehr zu tun hat.
Diese beiden Weisen des Verstehens, die des glaubenden Verwandelns und die des
historischen Verstehens,422 sind aber nicht sich ausschliessende Gegensätze. Weil
nämlich das historische Verstehen, wo es auf Wesentliches geht, auch den Glauben
im damals gemeinten Sinn verstehen muss, Verstehen des Glaubens aber nur durch
Teilnahme eigenen Glaubens möglich ist, so fordert die sachliche Auffassung selber
auch glaubendes Verständnis. Dies umso mehr, als sachlich in einer Erscheinung des
Glaubens an sich verborgen keimt, was später ausdrücklich ans Licht tritt. Das Falsch-
verstehen im historischen Sinn kann sachlich zutreffendes, aneignend hervorbringen-
des Verstehen sein, und zwar nicht durch ein zufälliges »fruchtbares Missverständnis«,
sozusagen durch einen glücklichen Irrtum, sondern durch Teilnahme eigenen Lebens
an dem Glauben, der in treffender Auffassung angeeignet jetzt in der neuen Gestalt
sich ausspricht, die nur der äusserlich bleibenden historischen Betrachtung als Fäl-
schung erscheinen muss.
Die erörterten Weisen des Verstehens gelten gegenüber allen gehaltvollen Texten
der Vergangenheit. Gegenüber der Bibel kommt eine Voraussetzung hinzu, da der
Glaube in ihr nicht ein Buch wie andere, sondern ein heiliges Buch sieht. Die Bibel ist
nicht Menschenwerk, sondern in Menschenworten Gottes Wort.
Wir sollen uns nicht einreden, dass für unser aufgeklärtes Wissen zwischen Bibel
und anderen Büchern jenes Jahrtausends kein Unterschied sei. Der Schnitt zwischen
der Bibel und allen anderen Texten besteht allein dadurch, dass zweiJahrtausende an
ihn geglaubt haben. Dass die Bibel das heilige Buch war und ist, ist nicht einfach alsa
Irrtum abzustreifen. Die eindeutige saecularisierende Behauptung von der Bibel als De-
positum der Literatur eines Volkes analog der Literatur anderer Völker scheint trotz
Richtigkeit an einem ebenso einfachen Gefühl der Ehrfurcht zu scheitern, das aus un-
serem geschichtlichen Grunde kommt als Treue zu unseren Ahnen, die, soweit unsere
durch Überlieferung belegte Erinnerung reicht, von dieser Ehrfurcht durch anderthalb
Jahrtausende erfüllt waren.

als nach den Abschriften A. F. und Schott statt auf in der Abschrift Gertrud Jaspers
 
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